Wann hört das auf?

Roland Schimmelfpennig erzählt die Geschichte des Vaters von Ödipus neu. Und zeigt den Menschen vor Erschöpfung ächzend angesichts des kosmischen Regelwerks.

"Laios" von Roland Schimmelpfennig, uraufgeführt von Karin Beier am Deutschen Schauspielhaus Hamburg © Monika Rittershaus

Roland Schimmelpfenning, geboren 1967 in Göttingen, ist Autor und Regisseur und einer der meistgespielten Gegenwartsdramatiker Deutschlands. Seit seinem Mülheim-Debüt 2000 (mit "Vor langer Zeit im Mai. Einundachtzig kurze Bilder für die Bühne", uraufgeführt an der Berliner Schaubühne) wurde er elf Mal zu den Mülheimer Theatertagen eingeladen (davon zwei Mal mit Kinderstücken). 2010 gewann er den Dramatikpreis mit "Der goldene Drache", 2023 den Kinderstückepreis mit "Das Märchen von der kleinen Meerjungfrau". Lange Jahre war der epochale Regisseur Jürgen Gosch sein enger künstlerischer Vertrauter und Uraufführungsregisseur.

Steckbrief zum Stück

Worum geht es?

Um die Vorgeschichte der berühmten Ödipus-Sage. Schimmelpfennig erzählt, wie Laois die Macht in Theben übernimmt und wie er sich in einer schwierigen politischen Lage zu behaupten versucht. Während das Volk einen Thronfolger von ihm fordert, warnt eine Prophezeiung ihn eindringlich davor, ein Kind zu zeugen. Denn es werde ihn töten und seine Frau schwängern.

Worum geht es wirklich?

Um Erschöpfung. "Wann hört das auf?": Diese Frage wiederholt Roland Schimmelpfennig mehrfach und meint damit die Gewalt, die den Mythos am Leben erhält. Er meint die Unterdrückung des Einzelnen durch das Kollektiv und dessen Unterdrückung durch den Herrscher. Er meint den Wahnsinn, der Laios' Geist ergreift. Und er meint die menschliche Existenz schlechthin, meint den Zwang, leben zu müssen und es eines Tages nicht mehr zu dürfen, dazwischen Schmerzen zu empfinden und in sich selbst keinen Sinn zu erkennen.

Als "tragisch" bezeichnet man das Dilemma des mythischen Helden, der schuldlos schuldig wird. Schimmelpfennig verpflichtet sich dieser Tragik, er fügt ihr aber auch eine ganz einfache und tiefe Traurigkeit hinzu. Ein anderer Schriftsteller, der Mythen-Kenner Michael Köhlmeier, beschrieb das Leid der antiken Helden einmal als Bürde, alles zum allerersten Mal zu erleben. Bei Schimmelpfennig sieht man, wie die Menschen bereits bei diesen ersten Schritten vor Anstrengung ächzen. Gerade erst geschaffen, sind sie schon am Ende, haben sie ihre Möglichkeiten ausgeschöpft.

Wie klingt das Stück?

Standesgemäß haben wir es mit einem Epos zu tun. Schimmelpfennigs rhythmisierte Verse evozieren dabei sehr verschiedene Stimmungen. Auch wenn die Tonart Moll dominiert, geht es oft heiter, dann wieder bedrohlich und gewalttätig zu. Wichtiger aber als der Sound sind an diesem Stück die Bilder. Da läuft zum Beispiel Iokaste, nachdem sie ihren Sohn im Wald ausgesetzt hat, "mit einem leeren Kinderwagen durch die Stadt, / und sie ist verzweifelt, / weil der Kleine einfach nicht einschläft, / obwohl da gar kein Kind ist". Oder "ein Tischler / hält seine rechte Hand / in die sich drehende Säge, / natürlich, / selbstverständlich, / und danach schleift er das Stück / und rundet noch die Kanten ab".

Wohin von hier aus?

Erstmal ins Kino, weil dieses Stück Lust auf große dramatische Bilder macht. "The Killing of a Sacred Deer" des griechichen Regisseurs Giorgos Lanthimos wäre ein Tipp. In der am Iphigenie-Mythos angelehnten Geschichte wird ein Vater gezwungen, ein Familienmitglied zu töten, um den Rest der Familie zu retten. Volker Schlöndorffs Verfilmung von Max Frischs "Homo Faber" schlösse sich ebenfalls gut an. Das Schicksal stürzt hier die akkurat geordnete Weltsicht eines Rationalisten ins Chaos. Darüber hinaus sei Rachel Cusks "Outline" empfohlen. Ein raffinierter Roman, der die antiken Mythen in den Erzählungen und Biographien zufälliger Reisebekanntschaften der Erzählerin aufspürt.

(Michael Wolf)

Roland Schimmelpfennig © Adriana Jacome

7 Fragen an den Autor

Was steht bei Ihnen ganz am Anfang der Arbeit an einem Stück?

Oft ein Bild.

Was sollten Stücke können?

Gute Stücke öffnen Räume.

Worüber könnten Sie niemals schreiben?

Jürgen Gosch hat mal gesagt: "Alles, was im Text steht, kann man auch spielen." Über Dinge, die man nicht spielen kann, weil keinerlei Form des Spiels oder der "Übertragung" ins Theater ihnen gerecht werden könnten, kann man auch nicht Theater schreiben – aber vielleicht Prosa. Oder Lyrik.

Was ist Ihre liebste Behauptung über das Theater?

Dass es unzerstörbar ist.

Welche Aussage sollte man nicht mit Ihrem Werk in Verbindung bringen?

Über die Frage habe ich jetzt lange nachgedacht. Die möglichen Aussagen, mit denen ich und meine Arbeit nicht zu tun haben wollen, sind nicht einzugrenzen, und keine der möglichen Antworten auf die Frage gefällt mir.
Damit hier keine Leerstelle entsteht stattdessen ein paar Sätze von mir, die ich so ähnlich an anderer Stelle und in anderem Kontext mal geschrieben habe und von denen ich mich im Gegenteil freuen würde, wenn sie in Zusammenhang mit meinem Werk gebracht würden:

Erzählen ist ein Ausdruck von Freiheit. Theater ist ein Ausdruck von Freiheit.
Wer schreibt, kann durch Wände gehen, kann fliegen, kann Gedanken lesen.
Wer schreibt, kann die Zeit anhalten, beschleunigen und durch einen brennenden Reifen springen lassen.

Welcher Klassiker imponiert Ihnen? Und warum?

Georg Büchner. Sein Werk ist wegweisend, bis heute.

An welchem Ort, abgesehen von Bühnen, würden Sie Ihr Stück gerne einmal aufgeführt sehen?

Auf der Straße.

 

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