Und am Himmel schwebt die Sphinx

Ödipus‘ Vater Laios ist gewarnt worden, doch was kann der Mensch gegen sein Schicksal ausrichten? Roland Schimmelpfennig lässt den Mythos aus der Zeit fallen. Sein Aufprall in Mülheim ist ein Ereignis!

Von Christian Rakow

Roland Schimmelpfennigs "Laios" © Monika Rittershaus

7. Mai 2024. Dem Abend eilt sein Ruf voraus. Und er ist jedes Dezibel dieses Rufes wert: "Laios" vom Hamburger Schauspielhaus ist ein Theaterereignis. Nicht weniger. Und das aus einem seltenen Zusammentreffen von so viel Glücklichem.

Da ist natürlich die Solistin dieses Abends, Lina Beckmann, die uns als Erzählerin auf eine weitere Reise mitnimmt, die Lebensreise des Laios. Sie beginnt bei seinen Ahnen, Kadmos, dem Drachentöter und Gründer der Stadt Theben. Eine blutige Spur voller Gräuel und Morden führt hinab zu Laios, der als Kind, vom Hause verstoßen, in der Fremde aufwächst, um später zurückzukehren und den Thron in Theben zu besteigen. Laios wird Ödipus zeugen, ihn aussetzen und von ihm dereinst erschlagen werden. Am Dreiweg. In grausamem Gleichklang der Geschicke.

In gerade einmal eineinhalb Stunden führt uns Lina Beckmann durch emotionale und gedankliche Landschaften, durch Spielwitz, Reflexion, Trauer, Beklommenheit, wieder Besinnung, dass man sagen muss: Die Weiten und Höhen Hellas sind nichts dagegen. Mit schelmischem Fragespiel ans Publikum nähert sie sich den antiken Genealogien, mit Slapstick in der Nähe von Buster Keaton zieht ihr Laios in die Stadt Theben ein. Dort wird es zunehmend düster. Das Ringen des Königspaares Laios und Iokaste mit dem Schicksalsspruch, ihr Sohn werde ihn, den Vater, töten und sie, die Mutter, ehelichen, treibt tiefe Furchen auch ins Spiel. Beklemmend. Kurzum: Beckmann ist 'ne Wucht.

Sie hat das Solo im engen Dialog mit Regisseurin Karin Beier entwickelt. Die beiden hatten es mit einem besonderen Schimmelpfennig-Text zu tun. Er erzähle aus Bildern heraus, erklärt Roland Schimmelpfennig in seinen Antworten auf die "7 Fragen" hier auf dieser Seite. Tatsächlich wirkt "Laios" wie eine Komposition von Vexierbildern. Wieder und wieder hergezeigt und ins wechselnde Licht gehalten, verwandeln sich die Gestalten darin. Wie Wasserzeichen scheinen zuvor verborgene Momente in jeder neuen Bildbeschwörung auf.

1 Laios Rittershaus 013Lina Beckmann füllt alleine die Bühne © Monika Rittershaus

Die Konfrontation zwischen Laios und Ödipus "auf der Straße" (am Dreiweg) zieht sich wie ein Refrain durch das Stück. Es ist das Bild, auf das alles zuläuft. Hoch oben schwebt die Sphinx und verhöhnt die schicksalhaft Verschlungenen. Alles andere faltet sich aus diesem Bild heraus: die schwule Liebe des Laios zu Chrysippos (oder ist es Missbrauch?), der unheroische Einzug in Theben, die düstere Prophezeiung des Orakels, die kalte Zuneigung Laios‘ zu Iokaste, die verödete, lange kinderlose Ehe.

"Vielleicht", "falls", "oder" sind die häufigsten Worte im Text. Schimmelpfennig erzählt in Varianten, in Korrekturen, in Möglichkeiten. "Laios" hat anders als andere antike Texte keine etablierte Vorlage, der Autor kann frei am Stoff entlang seine Welt imaginieren. Und er tut es mit ausgeprägtem postmodernen Gespür für die Relativität der Perspektiven, für das Ungesicherte des mythischen Berichts.

Das Schicksal fordert sein Recht

Kuriose Einsprengsel durchschießen den Text: In Theben gibt es Kinos und Boulevards, Iokaste schiebt einen leeren Kinderwagen. Den verloren geglaubten Laios findet der Hofstaat über Fotos auf Instagram ("Alle jung, niemand hat Übergewicht."). Der Text schillert modern, aber nicht so sehr wegen dieser kleinen humorvollen Ausbrüche ins Jetzt. Es ist komplizierter: Schimmelpfennig hat ein breites, gleichnishaftes Gemälde geschaffen. Ohne einfache Motivationen oder Psychologien. Er bleibt in gewisser Weise bei der Objektivität des Mythos, in dem getan wird, was den Schicksalslinien nach getan werden muss.

Und doch kann man in der Geräumigkeit dieses Gleichnisses Laios als Zeitgenossen entdecken. Der tragische Mann ist ganz auf sich selbst zurückgeworfen: ein Isolierter, ein Fremder, ein Survivor im Walde, ein egomaner Übermensch, wenn er nach Theben zurückkehrt: Ich bin "der Herrscher meiner selbst", sagt er. "Ich lebe gewiss nicht im Schatten einer Gegenwart, die mich zu etwas machen will, das ich nicht bin."
In diesem Laios scheitert das Modell des sich radikalisierenden, libertären Individuums. Bar jeder sozialen Bande, bar Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft erleidet er schutzlos die Prophezeiung des Orakels, verinnerlicht sie, nimmt sie als "Gefängnis ohne Mauern" ganz in sich auf. Der Wahnsinn bemächtigt sich seiner, der Kopf des Königs wird zum Schlund. "Hör auf!", schreit Lina Beckmann im Angesicht der dräuenden Sphinx, auf der Straße des Todes. Markerschütternd.

Bald darauf folgt Erlösung. Mülheim jubelt und ein ganzer Saal gibt sich der Feier des Theaters hin.

 

Laios
von Roland Schimmelpfennig
Regie: Karin Beier, Bühne: Johannes Schütz, Kostüme: Wicke Naujoks, Musik: Jörg Gollasch, Licht: Annette Ter Meulen, Video: Voxi Bärenklau, Dramaturgie: Sybille Meier, Mitarbeit Bühne: Anna Wörl, Mitarbeit Kostüme: Teresa Heiß.
Mit: Lina Beckmann, im Film: Liny Beckmann, Goya Brunnert, Josefine Israel, Ernst Stötzner, Julia Wieninger, Michael Wittenborn.
Uraufführung am 29. September 2023
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.schauspielhaus.de
Kommentar schreiben

Mehr zu Roland Schimmelpfennig