Korrektur der Klassiker
Im Magnetfeld des Mythos
Viele zeitgenössische Dramen reiben sich an klassischen Stoffen. Um etwas über uralte Muster menschlicher Erfahrungen zu erzählen. Aber auch, um gezielt Korrekturen an den Altvorderen vorzunehmen.
Von Georg Kasch
11. Mai 2024. Was ist das mit der zeitgenössischen Dramatik gerade? Überall widmen sich die Autor:innen alten Stoffen. Natürlich bilden das auch die Mülheimer Theatertage ab: Drei der sieben eingeladenen Uraufführungen beziehen sich auf bereits literarisch bearbeiteten Vorlagen, auf Klassiker, den Kanon.
Da ist Thomas Köcks "forecast:ödipus", das die Handlung und die Figuren aus Euripides‘ Tragödie mit der Frage nach unser aller Schuld an der Klimakatastrophe verknüpft – und der danach, warum wir zu wenig dagegen tun.
Da ist Roland Schimmelpfennings "Laios", der zwar, indem er von Ödipus' Vater erzählt, eine Lücke in der Weltliteratur schließt, aber auf reiches (und sich in vielen Details widerstreitendes) antikes Quellenmaterial zurückgreifen kann.
Und da ist Sivan Ben Yishais "Nora oder Wie man das Herrenhaus kompostiert", das Henrik Ibsens "Nora oder Ein Puppenheim" überschreibt zu einem Stück über Klassenunterschiede und den Wert von Nebenrollen (in der Dramatik wie im Leben).
Die Vermessung der Weltliteratur
Warum tun sie das? Vielleicht, weil wir die alten Geschichten brauchen mit ihren personalisierten Stellvertreterkonflikten, die Antigones und Kreons, die Elisabeths und Marias, die Fausts und Gretchens. Es sind die menschlichen Grundfragen nach Identität und Sinn, Macht und Emotionen, die dort diskutiert werden. Auf der organisatorisch-dramaturgischen Ebene der Stadttheater mag es sicher auch darum gehen, mit bekannten Titeln (selbst in der Verfremdung) die Abos vollzukriegen und den Bildungsauftrag abzuhaken. Aber der tatsächliche Hauptgrund, warum wir klassischen Stoffen auch heute noch so oft auf der Bühne begegnen, scheint mir doch im beispielhaften Durchspielen sämtlicher menschlicher Konfliktmöglichkeiten weit über den alltäglichen, zeitgenössischen Erfahrungsschatz hinaus zu liegen. Und in der Möglichkeit, unseren Abstand zu den alten Konfliktmustern auszumessen.
Natürlich sind die konkreten Fragen und Herausforderungen heute andere als in der Antike oder zur Hochzeit des bürgerlichen Realismus (Ibsen). In einer globalisierten Welt erscheinen sie oft entpersonalisiert, unfassbar, unlösbar: Klimakrise, Artensterben, Pandemien, Krieg, erneute atomare Bedrohung, Wertverlust bis hin zur Armutsdrohung. Die Mülheim-Auswahl gibt diese Entpersonalisierung durchaus zu erkennen (siehe den Essay zum "metrischen Wir" und seiner Dramatik hier auf dieser Seite).
Entsprechend hat sich unser Blick auf die Mythen gewandelt. Die Frage, was wir – und das heißt in erster Linie: die Theaterschaffenden an den Schalthebeln – noch mit den alten Stoffen anfangen können, was an ihnen problematisch ist, wird heute weniger in den Programmheften, als vielmehr direkt auf der Bühne verhandelt. Regieteams machen marginalisierte Positionen sichtbar, räumen Frauen mehr Rollen ein als die des Opfers, suchen und finden in den Geschichten queere Konstellationen und People of Color (oder schaffen ihnen Räume). Weil: Es hat sie auch in der Geschichte gegeben, sie wurden halt nur selten aufgeschrieben, und wenn, dann als Opfergeschichte. Man ist bei den Kanonikern ja schon dankbar für jede Königin, die mehr ist als eine Stichwortgeberin für die Macht-Männer.
Mythenkorrekturen
Da können die Dramatiker:innen auch gleich selbst ran, die entsprechenden Klassikertexte gründlich über- und weiterzuschreiben – und schaffen oft die interessanteren Zugriffe und Texte: PeterLicht ("Tartüffe oder Das Schwein der Weisen"), Ewald Palmetshofer ("Edward II. Die Liebe bin ich" und "Vor Sonnenaufgang"), E.L. Karhu ("Prinzessin Hamlet"), Katja Brunner ("Richard Drei. Ministerin der Hölle"), Necati Öziri ("Die Verlobung in St. Domingo – Ein Widerspruch") sind nur einige Beispiele. Oder Simon Stones Seifenopern-Versionen von Tschechows "Drei Schwestern", Strindberg-Stücken ("Hotel Strindberg") und antiken Dramen ("Eine griechische Trilogie").
Der Witz ist natürlich, dass das überhaupt nicht neu ist. Die Dramatiker:innen der Gegenwart stellen sich vielmehr in eine lange Traditionslinie, die bis in die Antike zurückreicht (und eigentlich bis in die mündlichen Tradierungen, die es in fast allen Kulturen gab beziehungsweise gibt): Jede:r Autor:in greift die überlieferte Geschichte auf, fügt aber auch Eigenes hinzu, spiegelt die eigene Zeit darin (wie etwa Friedrich Grillparzer die bürgerlicher Ehelogik in "Medea" oder Hugo von Hofmannsthal die Erkenntnisse der Psychoanalyse über Hysterie in "Elektra").
"Mythenkorrekturen" nennen Martin Vöhler und Bernd Seidensticker dieses Verfahren. Schmal ist der Grat zu den Klassikerkommentaren. Wenn ein Dramatiker wie Necati Öziri in seinem "Ring der Nibelungen" nicht die Geschichte ums Rheingold erzählt, sondern die mythischen Gestalten in langen Monologen als sehr zeitgenössische Wesen zeigt, wenn Leonie Böhm zwischen "Yung Faust" und "König Teiresias" die Klassiker um ihre Handlung erleichtert und nur noch die Emotionen und zentralen Konflikte übriglässt, wenn Joanna Bednarczyk Schillers "Jungfrau von Orleans" gegen Autor und Drama rebellieren lässt und Anne Rietmeijer in "Peer Gynt" ihrer Solveig eine hinreißend an die Morgenstern-Übersetzung angepasstes Selbstermächtigungsfinale schreibt, dann gehen sie damit weit über die ihnen zugrunde liegenden Erzählungen hinaus.
Abrechnung mit den Altvorderen
Worin besteht die Mythenkorrektur? Im Fall von "forecast:ödipus" darin, dass Köck den Fokus von der individuellen zur kollektiven Hybris verschiebt und aus dem Chor einen der Rentner:innen macht, die ihren Wohlstand absichern wollen. Teiresias sagt, was diese Menschen hören wollen. Nur das Orakel, das man (wenn man möchte) als Stimme der Wissenschaft lesen kann, schenkt ihnen reinen Wein ein (allerdings mit Kassandra-Effekt: niemanden kümmert die Wahrheit).
In "Laios" wiederum nutzt Schimmelpfennig die sich in etlichen Details widersprechenden Quellen, um Multiperspektivität und Unsicherheit in den Text zu schreiben. Es gibt Varianten, in die man sich als Zuschauer:in gerne hinein verführen lässt, nur um danach auch dem "Es könnte auch ganz anders gewesen sein" zu folgen. Eine Polyphonie von Deutungen so komplex wie der Mensch in seinem endlosen Ringen um Klarheit. Fixpunkt der Erzählung bleibt die Kreuzung, an der Ödipus seinen Vater Laios erschlägt. Was ist gute Herrschaft?, fragt Schimmelpfennig. Er ist klug genug, keine Antwort zu geben.
Ben Yishai wiederum nimmt Ibsens "Nora" zum Anlass für eine große Dekonstruktion. Von Ibsen bleiben nur Zitate. Der Rest ist eine Abrechnung mit dem Theater und dem gerade auch dort verbreiteten Salonkommunismus, der nämlich nur möglich ist, wenn andere den Dreck wegmachen. In Noras Worten (die Gerhild Steinbuch ins Deutsche übertragen hat): "Hey, ihr wisst ganz genau, was ich meine, ich meinte nicht 'Diener-Diener', ich meinte Dienstleistende! Eine Haushälterin! Einen Arbeiter! Einen geschätzten, würdevollen, gleichberechtigten Arbeiter! Einen Angestellten! Arbeiter! Mitarbeiter! Und Mitarbeiterinnen, natürlich! Mitarbeiter:innen, also, Mitarbeiter*innen."
Womit wir bei der Form wären. Ben Yishais Text liest sich, als hätte ein Bug die Formatierung geschrottet. Schon bei Ibsen sprechen die Protagonist:innen in Prosa-Sätzen. Bei Ben Yishai erinnert das Layout an Konkrete Poesie, die Dialoge klingen dezidiert heutig.
Der Klang der Missverständnisse
Anders Köck und Schimmelpfennig. Beide nutzen freie Rhythmen, die sich zuweilen zu Versen in klassizistischer Strenge (und Schönheit!) verdichten. Es ist Teil ihrer Kraft, ihrer bezwingenden Magie. Nicht zuletzt die Form fasziniert uns bis heute an Shakespeares, Schillers, Goethes Blankversen, aber auch an Molières und Racines Alexandrinern, selbst an Wagners oft albernen Stabreimen und den Knittelversen einiger "Faust"-Teile. Sie hat etwas unbedingt Zwingendes. Lässt sich Missverständnis schöner ausdrücken als in den durch "Ach!" und "Wie?" zerrissenen Versen Heinrich von Kleists?
In der Form liegt aber auch eine Herausforderung. Denn wir leben in einer formenarmen Zeit, mit weniger Regeln, Korsetts, sprachlichen Distinktionsebenen. Entsprechend drastisch clasht das bei Köck, der in seinen Sätzen Hoch- auf Umgangssprache, gewählte Wörter auf Denglisch-Pop prallen lässt. Auch das schafft Spannung.
Vor allem dienen Mythenkorrekturen dazu, uns in einer Tradition des Denkens, Fühlens, Handelns zu verorten, zu zeigen, wie konstant sich die Conditio humana über die Jahrtausende gehalten und wie fundamental sie sich zugleich geändert hat. Indem Köck, Schimmelpfennig und Ben Yishai den Abstand zur Vorlage vermessen, zum Mythos, zu dem also, was sich in unsere Kulturgeschichte nachhaltig eingeschrieben hat, entsteht ein Eindruck davon, was es heißt, Mensch zu sein.