Baracke – Claudia Bossard erzählt mit Rainald Goetz vom deutschen Familienterror
Stabil verrohte Sitten
Alle Gewalt geht von der Familie aus: So lautet der durchaus streitbare Kernsatz von Rainald Goetz' NSU-Stück und Deutschlandbilder-Parcours "Baracke", mit dem das diesjährige Festival eröffnete wurde. Die Bezüge sind manningfaltig, der Budenzauber groß, und die Pose stimmt.
Von Christian Rakow
5. Mai 2024. Das herrlichste Wort dieses Mülheimer Theaterjahrgangs scheint mir schon gefunden: "Ingrimm". So ein klangvolles Wort, so lange nicht gehört. Vom "Ingrimm der Eltern" spricht Rainald Goetz in "Baracke". Man müsste es eigentlich im Grimm'schen Wörterbuch nachschlagen und seine historische Wurzel begutachten. Hat es etwas mit "Isegrim", dem Wolf aus alten Märchen, zu tun? Würde zumindest gut passen. Denn vom "Ingrimm der Eltern" hin zur wölfischen Bestialität der Kinder ist es bei Goetz nicht weit.
"Alle Gewalt geht von der Familie aus"
Goetz' "Baracke" in der Uraufführung aus dem Deutschen Theater Berlin hat also die 49. Mülheimer Theatertage eröffnet. Es ist der große Budenzauber. Schon der Text von Goetz, die Regie von Claudia Bossard nicht minder. "Alle Gewalt geht von der Familie aus / nachts", sagt Goetz und gibt uns in seinem Stück eine Serie von Familienbildern, die gleichsam zu Deutschlandbildern anwachsen. Nachtstücke unseres Gewordenseins.
Ein Paar trifft sich, streitet, kriegt Kinder, die Kinder nerven, die Männer ticken aus, die Kinder werden geschlagen, die Frauen dulden, die Kinder ticken aus … Als roter Faden laufen Geschlechter- und Familienarrangements durch den Text, und daran entzündet sich ein schier unüberschaubares Feuerwerk an kulturhistorischen Assoziationen. Der Text ist im Grunde ein verhinderter Hyperlink-Parcours. Er müsste online veröffentlicht werden, wo man dann jedes fünfte Wort anklicken dürfte, um die Kontexte dahinter einzusehen.
Die Paarszenen sind bewusst disparat angelegt, sprachlich wie historisch, fügen sich nicht in eine chronologische Geschichte. Lose spielen sie auf die rechtsextreme Terrorzelle NSU an, deren Ursprünge in den Problemfamilien wie im Verlust des (ostdeutschen) Staates verortet werden. Aber schon die Berliner Premierenkritik hatte moniert, dass diese Bezüge doch reichlich nebulös und letztlich spekulativ bleiben. Auch die Wiederbegegnung mit Text und Inszenierung hat nicht wesentlich zur Verklarung beigetragen. Im Publikumsgespräch wurde angedeutet, dass Goetz Unmengen an Stoff zum NSU gesammelt und verschriftlicht hat und das Entstandene dann reduzierte und reduzierte und fragmentierte bis, ja bis? Man muss für mehr Einblick wohl auf die historisch-kritische Ausgabe warten, am besten digital, eben mit Hyperlinks.
Claudia Bossards Inszenierung verdoppelt das assoziative Verfahren und packt in ihrer Bildlichkeit noch einiges an Bezügen drauf. Die Autorfigur Goetz bekommt reichlich Raum (mit ihrem legendären Bachmann-Preisauftritt mit aufgeschnittener Stirn). Die Paare/Passanten der "Baracke" kommen mal in neoklassischen Kostümen, mal in Jogginghose oder Motorradkluft. Merke: andere Zeiten, aber stabil verrohte Sitten. Im Videobildschirm flimmern Willy Brandts Kniefall in Warschau, der Bruderkuss Honeckers mit Breschnew, später auch autoritäre Rattenfänger wie Alice Weidel oder Donald Trump. Alles recht ungebrochen gereiht. Es zählt der Glanz der großen Geschichtszeichen. Ein bisschen wie Checkpoint Charlie Museum.
Bewusstseinsstrom im Ruhr-Delta
Der wirkliche Trumpf dieser auch beim zweiten Schauen noch ziemlich spritzigen Inszenierung sind ihre Protagonisten: Mareike Beykirch mit furiosem Rave im Blut und wundervoll lakonisch in ihren Dialogen mit Jeremy Mockridge (als hypersensibler Softie in urkomischen Spürterror-Ranwanzungen) und Janek Maudrich (Marke stumpfer Macker aus der Motorradgang). In den Begegnungen der drei gibt sich Bossards Inszenierung ganz der postmodernen Befindlichkeitskomödie hin, die bei Goetz halt auch drinsteckt.
Wenn die Figuren dann aus ihrem konkreten Miteinander ins monologische Mäandern, Räsonieren und Fachjargon-Jonglieren abdriften (und von so Sachen wie "Rezeptivität und Responsivität" künden), wird es in Mülheim etwas heikel. Die Bühne ist um einiges breiter als das heimische DT. Während man im Berliner Schmuckkästchen regelrecht den Windkanal öffnete und den Leuten den Assoziationsfeenstaub auf die Stirn blies, zerrinnt hier an der Ruhr mancher Bewusstseinsstrom wie in einem verästelten Flussdelta.
Passt aber womöglich eh ganz gut. Denn die Goetz'sche Poetik ist ja in gewisser Weise darauf angelegt, sich der Verständlichkeit und Verstehbarkeit zu entziehen. Die Überforderung gehört zum cool chic dieses Schreibens. Die Pose stimmt. "Bin wirr, but fühle frische Kräfte", heißt es einmal. Ganz so frisch waren die Kräfte heute nicht, aber die Verwirrung trug.
von Rainald Goetz
Uraufführung
Regie: Claudia Bossard, Bühne: Elisabeth Weiß, Kostüme: Andy Besuch, Sound und Video: Annalena Fröhlich, Dramaturgie: Daniel Richter.
Mit: Mareike Beykirch, Frieder Langenberger, Daria von Loewenich / Lisa Birke Balzer, Janek Maudrich, Jeremy Mockridge, Evamaria Salcher, Andri Schenardi, Natali Seelig, Jurek Lane Mio Südhoff.
Premiere am 22. September 2023
Dauer: 2 Stunden 20 Minuten, keine Pause
www.deutschestheater.de
Mir geht es hier auch gar nicht um eine Exegese von Ankündigungstexten, die nun auch schon wieder ein Jahr alt, sondern um die Aufführung, die für sich steht. Die Debatte, ob der Text und der Abend die Gefühle der NSU-Opfer verhöhnen, gab es schon damals auf Nachtkritik. Ich habe begründet, warum ich Text und Inszenierung ärgerlich fand, weil hier mit den Mitteln der Boulevardkomödie rechter Terror und die Gewalt in deutschen Famiiien kurzgeschlossen und verharmlost wird.
Dass die NSU-Fragmente im Schreibprozess immer weiter reduziert wurden, mag so gewesen sein. Bei allem coolen Hyperlink-Chic war das Ergebnis für mich sehr ärgerlich. Die verbliebenen Anspielungen auf den NSU, eingebettet in eine Boulevard-Komödie, waren aus meiner Sicht eine Verhöhnung der NSU-Opfer.
Warum das so ist, habe ich nach der Uraufführung hier geschrieben: https://daskulturblog.com/2023/09/23/baracke-rainald-goetz-deutsches-theater-berlin-kritik/