Ewe Benbenek: Juices
Dein Stress ist vererbt
Ewelina Benbenek schildert ein Leben, das von der Angst vor dem sozialen Absturz bestimmt wird. Und verweist auf die historischen und politischen Gründe für diese Sorge.
Ewe Benbenek, geboren 1985 in Kamienna Góra/Polen, ist Dramatikerin und Literaturwissenschaftlerin. Mit ihrem Debütstück "Tragödienbastard" gewann sie 2021 sogleich den Mülheimer Dramatikpreis. "Juices" ist ihre zweite Einladung nach Mülheim.
Steckbrief zum Stück
Worum geht es?
Drei Sprechinstanzen namens A, B und C treten aus der Abstraktion in die deutsche Gesellschaft ein und kämpfen hier sofort um ihre Stellung. Sie erzählen von der prekären Lage eines "Du", das in ihren Schilderungen immer stärker Kontur annimmt. Eine unaufhörliche Angst vor dem sozialen Absturz verfolgt es. Auch ein Bildungsaufstieg konnte offenbar nichts daran ändern, dass die Lage dieser Person der ihrer Mutter stark ähnelt. Sie war aus Polen nach Deutschland gekommen, hatte als Reinigungskraft gearbeitet und war als solche missachtet worden. Von der Abstiegsangst des Einzelnen und dem Klassismus der Gesellschaft spannt das Stück im Folgenden einen Bogen zum historischen Verhältnis der Nachbarländer Deutschland und Polen. Analog zur Mutter wird Polen hier in einem ungleichen Machtverhältnis ausgenutzt.
Worum geht es wirklich?
Das Stück beklagt, dass die Gesellschaft den Wert von Menschen nach ihren familiären, kulturellen oder nationalen Wurzeln beurteilt. Es geht mithin um die Geschichtlichkeit sozialer Verhältnisse. Das Du, von dem das Stück handelt und das sich in ihm artikuliert, ist zu Beginn noch ganz abstrakt. Nicht zufällig spaltet es sich in bare Zeichen auf, in A, B und C. Sobald dieses Trio aber soziale Räume betritt, beginnt sogleich der Existenzkampf. Das Du steht damit beispielhaft für viele andere sehr konkrete Lebensschicksale. In diesem Stück ist das erwachsene Kind einer polnischen Migrantin immer noch nicht angekommen in Deutschland. Warum nicht? Weil die Gesellschaft ihm keine Sicherheit zubilligt. Die Energie des einzelnen Menschen, sein Ehrgeiz und sein Talent werden niemals ausreichen, um den Ballast abzuwerfen, den persönlichen, nationalen und historischen Ballast, der es dem Individuum so schwer macht, seinen Platz zu behaupten.
Wie klingt das Stück?
Rasant. A, B und C fallen einander ins Wort, wechseln sich schnell ab in ihren Redeanteilen, wiederholen sich, bilden immer wieder einen Chor. Sie erklären ihre Lage, ohne wirklich auf Verständnis zu hoffen, klagen und klagen an.
"dieser Stress,
dieser immer wiederkehrende Abrutsch-Stress,
der kommt einfach immer wieder,
der tut sich einfach nicht auflösen tun,
der tut einfach immer nur weiter wandern tun,
tut von Generation zu Generation wandern tun,
dieser Stress".
Wohin von hier aus?
Zur politisch und soziologisch interessierten Literatur. Deniz Ohde, Christian Baron oder Anke Stelling wären hier zu nennen. "Juices" enthält zudem den Anstoß, das historische Wissen über Deutschlands Wohlstand und die in ihm herrschenden Machtverhältnisse aufzufrischen. Man macht nichts falsch, wenn man hier einfach den Stichwörtern folgt, die das Stück selbst ins Spiel bringt wie: Marshall-Plan, EU-Osterweiterung, Niedriglohnsektor. Liebhaber der Freien Theaterszene wenden sich an Nicoleta Esinencu, die regelmäßig die hiesigen Ausbeutungsverhältnisse aus osteuropäischer Perspektive untersucht.
(Michael Wolf)
Sieben Fragen an die Autorin
Was steht bei Ihnen ganz am Anfang der Arbeit an einem Stück?
Ein Buchstabe, ein Wort oder ein Satzfetzen, die sich aufdrängen, die sich fortschreiben tun.
Was sollten Stücke können?
Dass sie nicht können sollen müssen.
Worüber könnten Sie niemals schreiben?
Das muss ich noch herausfinden.
Was ist Ihre liebste Behauptung über das Theater?
Ich versuche, bei Behauptungen wegzuhören und es mir in echt anzuschauen.
Welche Aussage sollte man nicht mit Ihrem Werk in Verbindung bringen?
Ich bin mir nicht sicher, aber ich denke, dass man im besten Fall ein Werk schreibt, über das es nicht so einfach ist, eine Aussage zu treffen. Aber vor allem bin ich mir auch nicht sicher, wann man als Autorin ein Werk erschrieben hat und hoffe, mir sagt jemand Bescheid, wenn es soweit ist.
Welcher Klassiker imponiert Ihnen? Und warum?
Ich finde es wichtig, erst einmal die Frage zu stellen, was "Klassiker" sind und wer überhaupt darüber entscheidet, was sie sind. Steht das eigentlich "sehr fest", was die Klassiker sind? Sind sie veränderbar?
Was ist für wen "ein Klassiker", und ist das nicht auch eine Frage der Herkunft, der Sozialisation usw.?
An welchem Ort, abgesehen von Bühnen, würden Sie Ihr Stück gerne einmal aufgeführt sehen?
In "Deutsch-als-Zweitsprache"-(DaZ)-Bildungskontexten.