Tango in der Sackgasse

Mit Videokamera ist Falk Richter in sein Elternhaus in Buchholz in der Nordheide gereist, um sich mit der Mutter über seine Herkunft zu verständigen. Ein intimer Bericht über eine schwule Jugend in der BRD der 80er Jahre.

Falk Richters "The Silence", uraufgeführt vom Autor selbst an der Schaubühne Berlin © Gianmarco Bresadola

Falk Richter, geboren 1969 in Hamburg, ist Autor und Regisseur. Neben seinen eigenen Stücken inszenierte er zuletzt wiederholt Elfriede Jelinek. Mit der Inszenierung ihres Texts "Am Königsweg" wurde er 2018 zum Regisseur des Jahres gewählt und zum Berliner Theatertreffen eingeladen. Seine diesjährige Theatertreffen-Einladung mit "The Silence" ist seine dritte bislang. Bei den Mülheimer Theatertagen ist er zum vierten Mal zu Gast.

Steckbrief zum Stück

Worum geht es?

Falk Richter hat ein sehr persönliches Stück über seine Herkunft aus Buchholz in der Nordheide geschrieben. Es porträtiert die vom Krieg geprägte und im Verschwiegenheitskorsett der Nachkriegsjahre eingeengte Elterngeneration und befragt die Traumata, die der sensible Sohn an ihrer Stelle durchlebt: "es sind nicht MEINE Gefühle und ICH WILL SIE NICHT MEHR FÜHLEN", sagt er. Die Eltern begegnen ihrem schwulen Sohn mit Misstrauen, Heimlichtuerei und Mundverboten, mit "Silence und Silencing". Sie nehmen ihm das Tagebuch weg, stecken ihm die Telefonnummer vom Psychiater zu, als sie herausfinden, dass er sich mit Männern trifft. Richter erzählt zugleich von den verheimlichten Affären der Eltern, von der Gewalt, die sie erfahren und weitergereicht haben, und von der Brutalität, mit der ihm Provinzjugendliche begegneten.

Worum geht es wirklich?

Im Versuch der privaten Aufarbeitung seiner Jugenderfahrungen zeichnet Richter zugleich ein großes Gesellschaftsporträt. Es untersucht den Bruch, der die deutsche Gegenwart prägt: Auf der Elternseite sehen wir die alte bundesdeutsche Mittelklasse mit ihrem Ethos der Demut und Leistungsbereitschaft, mit ihren Verdrängungen, ihrer Bigotterie, ihren heteronormativen Grundfesten und ihrem Wohlstandspathos. Auf der Gegenseite den Künstler als Vertreter der heute den Diskurs prägenden kosmopolitischen Mittelschicht, die auf Kommunikation setzt, auf Reflexion, auf Therapie; die sensibel ist, manchmal auch hypersensibel, die weltoffen und divers lebt, aber doch auch empathisch und bisweilen sentimental die eigenen Wurzeln untersucht.

Wie klingt das Stück?

"In meiner Familie habe ich mich nie sicher gefühlt. / In meiner Familie wurde unentwegt geredet, und doch war all das Reden wie ein GROSSES SCHWEIGEN und dieses Schweigen konnte unerträglich laut werden." Mit einfachen, direkten Aussagesätzen führt Richter in die biographische Erzählung ein. Wenn es zu erzählerisch wird, ruft er sich zurück: "Ich muss das hier abkürzen, es bewegt sich gerade alles ohnehin eher so auf eine Romanstruktur zu / und das soll ja irgendwann einmal, wenn dieser Text dann endlich fertig ist, auf einer Bühne gesprochen werden, / von einem Menschen, der hoffentlich eine angenehmere Kindheit hatte als ich."

Richter bleibt dabei ganz postmoderner Autor, der mit unterschiedlichen Textformen jongliert und das titelgebende Wort "Stille/Silence" in verschiedenen Assoziationen spiegelt. In den Erzähltext sind Interviews eingelassen, die Richter mit seiner Mutter in Buchholz für dieses Projekt führte (und die in der Uraufführung als Videos eingeblendet wurden): Es sind stille, behutsame Befragungen, ein Erinnerungsabgleich mit vielen Ausweichmanövern. Ein Tango durch die Sackgasse. Hinten raus gibt es ebenso komische wie erschütternd offene fiktive Telefonate des Protagonisten mit seinem Partner (der Sex ist nicht mehr gut), seinem Jugendfreund (der jetzt in heterosexueller Ehe mit einer Lehrerin für Katholische Religion zusammenlebt) und mit seiner Therapeutin, die Richter abkühlt: Was er sich denn von seinem Projekt erhofft habe! Seine Mutter habe mit der Verdrängung eben ihre eigene Form von Resilienz entwickelt. Da müsse der Sohn nun auch nicht bohren!

Wohin von hier aus?

Mehr aus der Familienerzählung gibt es in Falk Richters Stück "In My Room", das als Pendant zu "The Silence" gelten darf und sich noch stärker dem toxischen Vater widmet. Mit dem Motiv "Schwuler Intellektueller widmet sich selbstkritisch seiner Herkunft" schließt Richter an die französische Essayistik eines Didier Eribon ("Rückkehr nach Reims") oder Édouard Louis ("Im Herzen der Gewalt") an. Beide stehen wie Richters Abend im Repertoire der Schaubühne Berlin. Wer eine bundesdeutsche Mutter-Sohn-Geschichte nicht aus dem protestantischen Norden, sondern zwischen muslimischer Welt und Gastarbeiter-Leben in Nordrhein-Westfalen sucht, liegt mit "Unser Deutschlandmärchen" von Dinçer Güçyeter richtig. Das Bühnenstück zum Roman läuft am Maxim Gorki Theater, wo Falk Richter bis vor kurzem Hausregisseur war.

(Christian Rakow)

Falk Richter 1200 Maurizio Gambarini FUNKE Foto ServicesFalk Richter © Maurizio Gambarini

7 Fragen an den Autor

Was steht bei Ihnen ganz am Anfang der Arbeit an einem Stück?

Der Auftrag an mich selbst, dem, was ich in mir und um mich herum als Realität, als gesellschaftlichen IST-Zustand, oder als persönliche und kollektive Krisen wahrnehme, auf der Bühne Ausdruck zu verleihen und sprachlich und atmosphärisch zu fassen. Und der Motor fürs Schreiben, das, was ganz am Anfang die Richtung für die ersten Sätze vorgibt, kann ein Titel, ein Thema, ein Song, eine musikalische Struktur oder auch eine Besetzung bestimmter Schauspieler*innen sein.

Was sollten Stücke können?

Sie sollten die Zuschauenden aus ihren gewohnten Sehweisen HERAUSREISSEN, um sie mit einer anderen Welt zu konfrontieren, die sie ins Herz der eigenen Wirklichkeit zurückkatapultiert, um diese auf ganz neue Weise wahrzunehmen und SICH und die WELT ANDERS zu SPÜREN. Vielleicht kann ein Stück auch einfach eine Heimat bieten für die Verlorengegangenen, die nachts immer noch nicht schlafen können; meine Stücke können zumindest mir dabei helfen, mein Leben und die Welt um mich herum besser zu verstehen und weiter zu machen, auch, wenn es nicht immer einfach ist weiterzumachen, weil die Welt nicht immer ein Ort ist, der einlädt, in ihr zu verweilen. Durchs Schreiben verlasse ich sie und komme erst wirklich in ihr an.

Worüber könnten Sie niemals schreiben?

Ich glaube, ich könnte über alles schreiben, aber ich wäge mehr und mehr ab, was davon ich veröffentlichen möchte.

Was ist Ihre liebste Behauptung über das Theater?

Dass Theater die Welt verändern kann. Zumindest unsere WAHRNEHMUNG unserer Welt. Zumindest für diejenigen, die sich darauf einlassen, zumindest für die Dauer einer Vorstellung. Aber eben auch darüber hinaus: Georg Büchner hat die Welt verändert. Shakespeare hat die Welt verändert. Sarah Kane hat die Welt verändert. Zumindest meine Welt.

Welche Aussage sollte man nicht mit Ihrem Werk in Verbindung bringen?

So ziemlich all das, was in rechten Blogs, in der Jungen Freiheit, der FAZ und in der WELT über mich so seit Jahrzehnten geschrieben wird.

Welcher Klassiker imponiert Ihnen? Und warum?

König Lear. Großartige Figuren, sensationell spannende Handlung. Eine Gesellschaft ohne Empathie, die sich selbst durch Machtinterressen, Intrigen und Bürgerkriege zu Grunde richtet. Der mächtigste Mann im Königreich fällt, wird zum Ausgestoßenen, irrt schutzlos im Sturm über die nächtliche Heide, während seine Töchter gerade beweisen, dass Frauen an der Macht nicht per se bedeuten, dass nun alles besser wird.

An welchem Ort, abgesehen von Bühnen, würden Sie Ihr Stück gerne einmal aufgeführt sehen?

Mein erstes Stück “Gott ist ein DJ” wurde in den nuller Jahren viel und oft in Kunsthallen, in Clubs, im Netz, in TV-Studios, in Laboratorien für Experimentalmusik aufgeführt. Das hat damals meine Sicht auf das, was mit Theatertexten möglich ist, enorm erweitert. Meine Tanztheaterstücke TRUST und RAUSCH wurden dann 10 Jahre später in den mittelalterlichen Höfen von Avignon gezeigt. Nach Einbruch der Dunkelheit kämpften die Schauspieler*innen und Tänzer*innen gegen die Hitze und den Mistralwind an vor einem begeisterten, weltoffenen, internationalen Publikum. Auch das war ein berauschendes Erlebnis. Was jetzt noch fehlt, ist die Filmleinwand. Ich würde THE SILENCE gerne verfilmen.

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