Schreiben fürs Theater
6 Thesen zur neuen Dramatik
Am Tableau der nominierten Stücke sind die prägenden Ästhetiken der Gegenwartsdramatik zu erkennen. Und ihre Leerstellen.
Von Christian Rakow und Michael Wolf
1. Das Individuum ist verschwunden
Für viele Menschen ist der Charakter unserer Epoche vermutlich mit Corona so richtig deutlich geworden. Als wir uns fragten, wie hoch denn nun das Risiko einer Infektion sein möge, draußen im Park oder im Theater, mit Maske oder ohne. Und anfingen, Statistiken zu studieren.
Da begriffen wir, dass die eigene konkrete Erfahrung nicht mehr ohne den Blick auf Exponentialfunktionen, Kurvendiagramme und Prozentwerte auskommt. Die Wissenschaft hat das natürlich schon geraume Zeit vorher beschrieben. "Das metrische Wir" nennt der Soziologe Steffen Mau den durch Zahlen und Messwerte dominierten Menschen der Gegenwart. Dieser Mensch zeigt sich nicht mehr als Individuum mit seinem einzigartigen Charakter und mithin einem besonderen, inneren Zusammenhang von Eigenschaften. Er erscheint vielmehr reduziert auf seinen Stellenwert als Datengeber für Systematiken und Registraturen. Was zählt (im wahrsten Sinne des Wortes), sind seine isolierbaren, verallgemeinerbaren und abrechenbaren Eigenschaften.
Für die Gegenwartsdramatik ist dieses "metrische Wir" längst Ausgangspunkt des Schreibens geworden. Wenn Ewe Benbenek die prekären Arbeitsbedingungen osteuropäischer Werktätiger vorstellt, lässt sie ihre Sprecherinnen in maximaler Anonymisierung als "A", "B" und "C" zum Chor zusammentreten. Nicht die Figur ist interessant, sondern ihr Beitrag als Diskursposition. Bei Felicia Zeller haben die Stimmen aus dem Frauenhaus zwar Vornamen, sind aber nicht anders als bei Benbenek sogleich als Träger kollektiver Erfahrung vorgestellt. Das gesellschaftliche Allgemeine ist an jedem Punkt vorgeschaltet.
Sivan Ben Yishai verzichtet ihrerseits komplett auf die Benennung der Dramatis Personae und lässt den Redetext frei über die Seiten laufen, um ihre Herrenhaus-Beschäftigten in maximaler Exemplarizität als Dienstleistungskollektiv und Träger einer übergeordneten These (pro Intersektionalität) gegen Ibsen und seine "Nora" zu behaupten. Selbst dort, wo Helden mit großen Eigennamen auftauchen (wie Ödipus bei Thomas Köck), geht es unmittelbar um das "System", in dem der Protagonist nurmehr seine Funktionsstelle einnimmt.
Das Individuum hat ausgedient. Es ist zum Massenmenschen und Anschauungsbeispiel soziologischer Bestandsaufnahmen geworden. Vereinzelt zeigt sich noch die Spur seines Verschwindens, etwa in der autofiktionalen Familienstudie "The Silence" von Falk Richter, wo das Allgemeine des Generationenporträts quasi induktiv aus den Nahansichten des konkret Erlebten erwächst. In allen anderen Mülheim-Texten regiert die Stimme des Diskurses über die Figur, der allgemeine Befund über die anschauliche Situation. Worin sich eine Tendenz zur Abstraktion fortschreibt, die in den letzten Jahre mit Autor*innen wie Elfriede Jelinek (der Mülheim-Rekordsiegerin) vorgeprägt wurde.
2. Stoffe werden gefunden, nicht erfunden
Die Gegenwartsdramatik orientiert sich in der Wahl ihrer Stoffe immer öfter an anderen, oftmals kanonischen Werken. Dieser Trend der letzten Jahre schlägt sich auch in der Auswahl der Mülheimer Theatertage nieder. Sivan Ben Yishai arbeitet sich an Ibsens "Nora" ab, Thomas Köck und Roland Schimmelpfennig nehmen sich antike Stoffe vor. Diese Nachträglichkeit des Schreibens ist dabei nicht einfach nur ein Aspekt der Stücke unter anderen, sondern genuiner Teil der Poetiken. Bei Ben Yishai heißt es über Nora mit Blick ins Publikum: "Kennen alle ihre Story? / Haben alle das Stück gelesen? / Nicken rechts / Eine Inszenierung gesehen? / Nicken links". Und Thomas Köck bringt die Kenntnis der Ödipus-Geschichte in Verbindung mit dem Wissen über den Schuldzusammenhang des Menschen in der Klima-Katastrophe: "alle kennen das geheimnis / vom publikum über die expert:innen bis zu den / schauspieler:innen / seit jeher / aber alle spielen weiter mit".
Schreiben, das bedeutet in solchen Arbeiten "adaptieren", "anpassen", vor allem aber "kritisieren" und "interpretieren". Beim Publikum wird eine gewisse Vorbildung vorausgesetzt, denn klar ist: Auch wenn das neue Stück ohne Kenntnis des Originals verständlich sein mag, so wird man doch unweigerlich etwas verpassen, wenn man seinen Ibsen oder Sophokles nicht gelesen hat. Es gehört zu den Widersprüchen dieser oftmals politisch sehr ambitionierten Programme, dass sie zugleich einen elitären Geist atmen.
Das "nachträgliche" oder "sekundäre" Schreiben beschränkt sich jedoch nicht auf die Neudichtung von Klassikern. Auch andere Tendenzen der Gegenwartsdramatik lassen sich darunter fassen. So etwa das Investigativ-Theater von Akteuren wie Correctiv mit Jean Peters/Lolita Lax oder Calle Fuhr, dokumentarische Ansätze wie etwa die von Hans-Werner Kroesinger und Regine Dura oder autofiktionale Programme, wie Falk Richter es in seinem Wettbewerbsbeitrag "The Silence" vorstellt.
Sie alle eint eine Abkehr vom Ziel der Originalität. Themen, Handlungen, Dramaturgien und Figuren sind hier nicht erfunden, sondern gefunden. Diese Gegenwartsdramatik setzt nichts Neues in die Welt, sondern reagiert auf bereits Gelesenes und Erlebtes. Fantasie und Kreativität sind als Kompetenzen weiterhin gefragt, jedoch eher für die Detailarbeit. An ihre Stelle im Zentrum des Werks rückt ein analytischer Ehrgeiz, der das Gegebene aktualisiert, hinterfragt und zur Gegenwart in Bezug setzt.
3. Der Bericht ersetzt die Darstellung
Es mag für Kenner der neueren Dramatik trivial erscheinen, aber man muss es doch einmal festhalten: Dramatik im engeren Sinne findet in der neueren Dramatik nicht statt. Also Dramatik als Darstellungsform, mit der eine erdachte Handlung in Präsenz vorgeführt wird. Jemand verkörpert eine fiktive Figur und spielt ihr Tun vor unseren Augen: (Sandra Hüller als) Ophelia stößt (Lars Eidinger als) Hamlet von sich weg. Solche dramatischen, szenischen Momente haben neuere Stücke, zumindest hier in Mülheim, ganz selten.
Was in ihnen überwiegt, ist die epische Form. Figuren – oder sollte man besser sagen "die Träger der Rede" (denn als Handelnde sind sie nicht wirklich gebeten) – berichten über vergangenes Geschehen. Dieses Geschehen vorzuführen, ist weitgehend obsolet. Der Dialog ist ebenso zurückgenommen wie die Interaktionen oder überhaupt die Tätigkeiten der Figuren. Das Erinnern überwiegt das, was jetzt und hier zu tun wäre.
4. Amplifikation schlägt Plot
Was macht ein Text, der so anfängt?
A: A
B: A
C: A
Und es folgen noch siebenundzwanzig weitere "A", bevor es wechselt:
Chor: Also.
B: Alsoso
A: No! Also
C: Also so!
Sie ahnen, es kommen auch noch mehr Variationen von "Also".
So beginnt Juices von Ewe Benbenek. Mit einer verspielten Szene des, ja nun, des Beginnens. Auf der Handlungsebene ist nicht viel los: "Wir starten, aber noch nicht richtig." Aber es lässt sich natürlich lebhaft vorstellen, wie Schauspielerinnen aus diesem Textangebot eine "große Nummer" machen, wie jedes "A" anders tönt, wie jedes "Alsoso" ulkig hervorgestottert wird. Ewiger Aufschub des Handlungsmoments, unmittelbar sprudelndes Spektakel der Form.
In nuce bildet sich in so einer Textstelle ein wesentliches Charakteristikum der neuen Dramatik ab. Die Handlung als Ganze wird eigentlich sekundär. Wichtig ist der poetische Ausdruck, das Medium, nicht die Botschaft. In der Rhetorik spricht man in solchem Fall von Amplifikation: Die Rede bleibt inhaltlich stehen und schmückt sich wortreich aus. Der Moment rückt unter das Vergrößerungsglas.
Das Gros der nach Mülheim eingeladenen Texte lebt von dieser Art von Amplifikation. Die Dramatiker*innen insistieren, sie rhythmisieren, sie geben einzelnen Punkten ihres Berichts einen emphatischen Nachdruck. Eine größere Geschichte aber treiben sie nicht voran. Wenn das mal geschehen sollte, wie in den auf antike Vorlagen zurückgreifenden Texten Laios oder forecast:ödipus, dann im Modus des analytischen Dramas (des krimihaft aufdeckenden Dramas): Es führt seine Geschichte als hinlänglich bekannte vor und fragmentiert und kommentiert sie entsprechend.
Das Drama der Amplifikation bedeutet: Die Ereignisketten pausieren, werden durchtrennt, zerfallen in punktuelle Einzelansichten. Mit dem Zusammenhang der Geschichte verschwindet dann auch der Plot, also der mit einer gewissen Notwendigkeit entfaltete Konflikt zwischen handelnden Akteuren.
5. Es hat sich auserzählt
Der Gewinn eines solchen Vorgehens sind, grob gesagt, Musikalität und Show. Wo nicht mehr alle Kraft in die Entwicklung eines Plots mit seinem feinen dramatischen Räderwerk aus Absichten und Konsequenzen investiert wird, da werden die Spieler*innen frei für das, was man "Performanz" nennt: das Bespielen einer Situation, die Artistik im Augenblick.
Der Verlust lässt sich gleichwohl auch ausmachen: Was man von diesen Theatertexten nicht mehr erwarten darf, sind nacherzählbare Geschichten in langen Bögen. Eher addieren die Stücke Thesen, Aussagen. Wenn man sie als Zuschauer daheim bei Freunden wiedergeben will, dann behilft man sich oft mit Konglomeraten, reiht unverbundene Momente aneinander. Man benennt thematische Ballungen statt Ereignisfolgen zu rekapitulieren.
Was damit auch wegfällt, ist das Rätsel, das sich an einer Handlung entzünden könnte. Es fehlt die Spannung, die nach dem Fortgang des Geschehens fragt (Roland Barthes nannte diese Funktion den "hermeneutischen Code"). Moderne Texte werfen keine Probleme auf, die nach Auflösung rufen (Wer hat Hamlets Vater getötet? Wird der Sohn zum Rächer?). Sie sind in gewisser Weise apodiktisch. Sie sagen, was ist, nicht wie es wurde. Sie sind immer schon fertig. In der Berichtform liegt alles hinter den Figuren (Thesenträgern).
Auf eine imaginäre Reise ins Erleben kommt man hier allenfalls sporadisch. Was wird passieren, wenn Teiresias dem Orakel entgegentritt (Köck: forecast:ödipus)? Ein Rätsel! Was widerfährt Falk Richters jugendlichem Ich, wenn er uns narrativ an seiner Verfolgung durch homophobe Kerle teilhaben lässt? Entkommt er? Gibt es Rettung? In solchen Momenten versetzt man sich gebannt ins Geschehen hinein, antizipiert seine möglichen Verläufe, denkt fieberhaft mit.
Das sind rare Ankerhaken für eine imaginäre Teilhabe des Publikums. Aber die neue Dramatik hat tiefe Skepsis gegen solche Handlungsverknüpfungen (er solle nicht romanhaft werden, ruft sich Falk Richters Erzähler einmal selbst zur Disziplin). Antizipation von Ereignissen ist größtenteils nicht erwünscht.
6. Es gibt auch andere Stücke
"Die neue Dramatik" heißt es hier immer wieder. Aber die hier vorgestellte Poetik ist natürlich nicht alternativlos. Es ist schlicht die Dramatik, die seit vielen Jahren schon die Mülheimer Theatertage prägt. Meister des Emplotments wie Lutz Hübner & Sarah Nemitz oder John von Düffel haben es in Mülheim traditionell schwer. Der Megahit der letzten Jahre, das Gerichtsdrama "Terror" von Ferdinand von Schirach, durfte sich in Mülheim nicht dem Wettstreit stellen. Die Queen of Social Comedy, Nora Abdel-Maksoud, schlug ein mickriges Mal in Mülheim auf (mit Jeeps 2022).
Die Liste, dessen, was man vermisst – nicht als Einzelfall, sondern ob seines paradigmatischen Wertes und als Gegenentwurf zum hier präsentierten – ist lang. Sie endet in dieser Saison etwa mit der gewitzten Klimakrisen-Parabel "Planet B" von Yael Ronen (uraufgeführt am Berliner Maxim Gorki Theater), die ebenso populär wie feinsinnig die Auslöschung der Arten durch den Menschen spiegelt.
Die Fahne der Klimadebatte und den Fokus auf den Ökozid hält in Mülheim dieses Jahr Thomas Köck mit seinem "forecast:ödipus" hoch. Mehr auf sachbuchförmige Thesen zugeschnitten, aber doch so dialogisch und in Ansätzen traditionell dramatisch, wie es Köck lange nicht war. Für formenpluralistische Autoren wie Köck bleiben der Dialog und das Drama eine Option, die punktuell taugt. Auch wenn man eigentlich quasi essayistisch vom Monolog her denkt. Das ist der Stand der neuen Dramatik. In Mülheim.
Es ist exakt wie Long John Büffel schreibt: hier begründet sich eine Kuratoren-Jury seine Geschmacksurteile.
Es ist eben genau wie bei der abstrakten Kunst: über dem Sofa im Designer-Loft sieht sie einfach super chic aus. Und Kritiker*Innen können sich ihr Urteil dazu einfach selber basteln.
Ohne so etwas lästiges wie Begründungen dafür suchen zu müssen.
Für mich hat sich das “Theater heute treffen in Mühlheim” mit diesem Artikel ins argumentative Jenseits katapultiert.