südpol.windstill – Armela Madreiters Kinderstück über das Leben mit einer bipolaren Mutter
Lieber bei den Pinguinen
Wie umgehen mit Mutters starken Stimmungsschwankungen? Ida, die Heldin in Armela Madreiters Kinderstück "südpol.windstill", hat für sich fantasievolle Lösungen gefunden. Und Yvonne Kespohls Uraufführung verleiht ihnen einen behutsamen Ton.
Von Georg Kasch
14. Mai 2024. Was unterscheidet den ziemlich kalten Nord- vom ähnlich kalten Südpol? Einiges: Während der Nordpol aus gefrorenem Wasser besteht und Heimat der Eisbären ist, besteht der Südpol aus (schneebedeckter) Landmasse, auf der Pinguine leben.
Auch Idas Mutter in Armela Madreiters Stück "südpol.windstill" ist gespalten in zwei Pole, in die Nordpol- und die Südpoltage, wie Ida sie nennt. An den Nordpoltagen ist sie lethargisch, wortkarg, depressiv. An den Südpoltagen fröhlich, aufgeräumt, voller Energie. Weil das Leben mit einer bipolaren Mutter herausfordernd ist, hat Ida einen imaginären Freund: den Südpolforscher Robert Falcon Scott. Denn Ida ist fasziniert vom Südpol, nicht zuletzt, so kann man vermuten, weil sie die Antarktis mit den guten, den manischen Tagen ihrer Mutter verknüpft.
Mutters wechselnde Wetterlagen
Dass man sich solche Analogien zurechtlegen muss und nicht auf dem Silbertablett präsentiert kriegt, gehört zu den vielen Stärken von Madreiters Stück. Angenehm ist es zu erfahren, wie gut die zehnjährige Ida mit der Krankheit ihrer Mutter umgeht, wie behutsam sie den eigenen Alltag um sie herum organisiert. Der Konflikt des Stücks liegt darin, dass Ida einen blauen Brief aus der Schule mit sich herumträgt und sich nicht traut, ihn der Mutter zu zeigen – das könnte deren Stimmung verschlechtern.
Außerdem begegnet sie Amre, dem neuen Nachbarsjungen aus dem Stockwerk drüber, der seine eignen Herausforderungen – laute Großfamilie in kleiner Wohnung – und Forschungssehnsüchte – die Sterne – hat. Behutsam entwickelt sich hier eine Freundschaft, die Ida etwa den Wert von Komplexität begreifen lässt: Sie hat nicht zwei Mütter, wie sie lange annimmt, um sich die verschiedenen "Mutterlagen" (analog zum Wetter) zu erklären. Sondern nur eine mit zwei Seiten.
Das Schöne an Madreiters Stück, insbesondere in der klugen Heidelberger Strichfassung: An die Geschichte vom Mädchen, dass früh erwachsen werden muss, lagern sich eine Vielzahl von Themen an, die alle nicht ausbuchstabiert werden müssen: bipolare Störung, Armut, Alkoholismus, Schulden hier, Freundschaft, Familie, Entdeckerlust und das Abenteuer Naturwissenschaften da. Zusammengehalten wird das durch ein dichtes Netz an Bildern rund um Kreuzworträtsel, die Sterne und die (Ant-)Arktis.
Yvonne Kespohl greift diese Motive behutsam auf in ihrer Inszenierung für das Junge Theater Heidelberg. Robert Sievert hat ihr dafür eine breite Bühne gebaut: Links steht eine Waschmaschine mit Geldschlitz, rechts auf einem Podest ein Kühlschrank vor Fliesentapete. Dahinter hängt ein eisig silberner Vorhang, der sich nur an den Südpoltagen öffnet und den Blick auf einen überlebensgroßen Pinguin freigibt. An den Nordpoltagen kann es sein, dass das Gefrierfach des Kühlschranks nur kleine Plastikfischchen mit Sojasoße ausspuckt.
Emotionale Unbedingtheit
Hannah Hupfauer spielt Ida als eine junge Frau mit all ihren zupackenden wie ihren zweifelnden Momenten fern aller Kleinmädchenhaftigkeit. So entsteht von Anfang an eine Augenhöhe mit einem Publikum jedweden Alters, auch eine Freiheit im Spiel. Patricia Schäfer wiederum legt ihren Scott in Overall und Fellschuhen derart offen an, dass da auch immer die Mutter durchschimmert, wie Ida sie sich vielleicht erhofft (die Mutter selbst tritt nicht in Erscheinung): als Sparringpartnerin für ihre Leidenschaften, Interessen, Sorgen. Rachid Zinaladin zeichnet Amre so geradlinig warmherzig und begeisterungsfähig, dass man den beiden jungen Leuten die Freundschaft sofort glaubt.
So stellt sich eine emotionale Unbedingtheit ein, die einem für Momente Tränen in die Augen treibt und für die man gut gemachtes Kindertheater liebt. Zumal selbst das Happy End klug mit Realismus gefedert wird. Ganz nebenbei dekonstruiert Madreiter die Legende vom genialen Polarforscher. Er sei gescheitert, gesteht Scott gegen Ende, weil für ihn Schnelligkeit vor Genauigkeit ging. Ida selbst macht die Erfahrung, dass in der Wissenschaft das Scheitern Teil der Forschung sein und man sich korrigieren kann. Wichtig ist nur, sich davon nicht entmutigen zu lassen.
von Armela Madreiter
Regie: Yvonne Kespohl, Bühne und Kostüme: Robert Sievert, Dramaturgie: Theresa Leopold, Theaterpädagogik: Franziska Kühnle.
Mit: Hannah Hupfauer, Patricia Schäfer, Rachid Zinaladin.
Uraufführung am 18. November 2023 am Jungen Theater Heidelberg
Dauer: 1 Stunde 10 Minuten, keine Pause
www.theaterheidelberg.de