Im Ameisenhaufen

Das Künstlerteam der Goetz' Produktion war fast in Ensemblestärke mit Regisseurin Claudia Bossard aufs Podium gekommen. Nur ein Protagonist des Abends zeigte seinen Rücken.

Von Marlene Drexler

Rainald Goetz beim Publikumsgespräch in Mülheim © chr

5. Mai 2024. Ein Publikumsgespräch mit Rainald Goetz – das ist Vorfreude pur. Die Unerbittlichkeit und der coole Glamour seiner Sprache nährt die Aura seiner Person. Und zwar nicht nur für "Männer über 45", wie beim Publikumsgespräch gewitzelt wurde. Nein, Goetz hat auch in anderen Altersgruppen Fanboys und -girls. Und eben Fame. Legendär und für jeden Bericht pflichtmäßig zu erwähnen (so in meinen hier) wurde sein dramatischer Auftritt beim Ingeborg-Bachmann-Preis1983. Damals ritzte er sich vor laufenden Fernsehkameras mit einer Rasierklinge die Stirn auf. In Mülheim gab es kein Stirnritzen, vielmehr irritiertes Stirnrunzeln bei den Gästen des Publikumsgesprächs. Denn Goetz‘ Name tauchte bei den Namensschildern auf dem Podium gar nicht auf.

Der Schriftsteller zeigte sich beim Festival von seiner zurückhaltenden Seite. Er sei selbst schockiert, wie selten es Autoren gelinge, sich angemessen zu ihren Texten zu äußern. Er sehe die Gefahr, die eigene Arbeit durch spontane und mitunter unpräzise Aussagen zu verraten. So schrieb er jüngst in einem Text und Moderatorin Eva Behrendt richtete es uns aus.

Nachvollziehbare Gedanken, dennoch schade, den Autor nicht selbst sprechen zu hören. Insbesondere da zweieinhalb Stunden Goetz-Input durchaus ein Bedürfnis produzieren können, noch mal ein bisschen gemeinsam zu verdauen. Für Podiumsfragen und für Fragen aus dem Publikum – die am Ende eher rar blieben – standen dann Teile des Ensembles sowie Regisseurin Claudia Bossard und Dramaturg Daniel Richter zur Verfügung.

Mit augenzwinkernder Sprechpause

Trotz Goetz' Anwesenheit (er verfolgte das Gespräch aus der ersten Reihe) berichtete Mareike Beykirch (die in Baracke die Hautfigur Bea verkörpert), recht unbefangen, den Namen Goetz habe sie bis vor der Produktion lediglich "mal gehört" gehabt. Und auch am Text an sich sei sie zunächst verzweifelt, so Beykirch. Man habe ihr dann geraten "lies nochmal und nochmal, dann verstehst Du mehr" – "Und dann habe ich nochmal gelesen und … mehr verstanden", gibt Beykirch mit andeutungsvoller Sprechpause augenzwinkernd zu Protokoll.

Ein Grund dafür: Es gibt in "Baracke" immer wieder Textpassagen, die keiner Person zugeordnet sind. Wie man im Gespräch erfuhr, wurden diese Passagen während der Proben im Ensemble herumgereicht, bis für die Beteiligten eine Logik entstand. "Baracke" wirke auf sie wie ein "Ameisenhaufen", so Regisseurin Bossard, die das Angebot zur Uraufführung gleichzeitig als große Ehre beschrieb. Fragen nach dem Umgang mit deutscher Geschichte, die das Stück immer wieder streift, seien für sie als gebürtige Schweizerin dennoch eine Herausforderung gewesen.

Insgesamt blieb nach dem Publikumsgespräch der Eindruck, dass Regie und Dramaturgie bis zum Ende ziemlich mit dem Stück gerungen haben. Mit dem Bühnenergebnis ist Goetz selbst offenbar sehr glücklich. Das sagte er, ja tatsächlich, bei einem Publikumsgespräch, nicht hier in Mülheim, aber jüngst am Deutschen Theater Berlin.

Kommentare  
Publikumsgespräch Rainald Goetz: Nicht gerungen
Back to the Facts. Weder Regie/Dramaturgie haben mit dem Text gerungen. Wir haben uns aus Überzeugung für das Stück entschieden, das formal und inhaltlich herausfordernd und dringlich in seinem politischen Engagement ist. Ein Stück Literatur, nach dem man sich im Theater sehnt, ein Text ausufernder Verästelungen, der uns durch seinen komplexen Zugriff auf Gegenwart davor bewahrt, die Verstörungen unserer Zeit an der Oberfläche ihrer Erscheinungsformen zu betrachten. Ein Text, der sich mit Gewalt in der Familie beschäftigt, die im gesellschaftlichen Schweigen erstickt. Es ist Goetz' Sprache, die nicht durch uns hindurchrauscht, sondern unbequem ist, weil sie uns zwingt, Nebensätze und Differenzierungen im Denken auszuhalten. Die Probe wurde dabei das, was ihr einmal die Bezeichnung geschenkt hat: ein Raum, Sprache, Text, Content leidenschaftlich zu erproben und Darstellungsweisen zu überprüfen. Gemeinsames Verdauen hätte ich mir auch gewünscht. Der Raum war offen für Fragen - auch Ihnen.
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