Auf Kosten der anderen

Sivan Ben Yishai knüpft sich den Autor Henrik Ibsen und seine Emanzipations-Gallionsfigur Nora vor. Und kein Auge bleibt trocken.

"Nora oder Wie man das Herrenhaus kompostiert" von Sivan Ben Yishai, uraufgeführt von Marie Bues am Schauspiel Hannover © Kerstin Schomburg

Sivan Ben Yishai wurde 1978 in Israel geboren. 2012 schlug sie in Berlin auf, erschrieb sich ihren Namen an Häusern wie dem Maxim Gorki Theater und als Hausautorin am Nationaltheater Mannheim. Mit ihrem dort entstandenen Stück "Wounds Are Forever (Selbstportrait als Nationaldichterin)" gewann sie 2022 den Mülheimer Dramatikpreis. Im vergangenen Jahr war sie ebenso nach Mülheim eingeladen wie in diesem.

Steckbrief zum Stück

Worum geht es?

Die Zeiten, da man sich unschuldig über die geglückte Emanzipation der Bürgergattin Nora aus Henrik Ibsens "Nora. Ein Puppenheim" (von 1890) freuen konnte, sind vorüber. Bei Sivan Ben Yishai wird die Vorreiterin der Frauenbewegung abgeräumt, ihr bürgerliches Haus ausgeräumt und ausgemistet.

Die Israelin legt einen abendfüllenden Kommentar zu Ibsens Stück vor. Dessen Inhalt fasst sie darin kurz und knapp so zusammen: "Diese zwei hier sind verheiratet / Er ist irgendwie ein Daddy, sie ist irgendwie sein Wifey / Irgendwann kapiert sie das / Sie verlässt ihn / Ende." Damit ist eigentlich alles gesagt über das Ehedrama des Paares Torvald und Nora Helmer. Viel mehr als der Konflikt der beiden interessieren Ben Yishai die materiellen und ideologischen Voraussetzungen ihrer bürgerlichen Existenz im "Herrenhaus".

Sie rückt jene ins Rampenlicht, die quasi unsichtbar für die Organisation dieses "Herrenhauses" werkeln: die "Bediensteten", die bei Ibsen lediglich Kurzauftritte abbekommen haben. Wir treffen auf das Hausmädchen Helene, das Kindermädchen Anne-Marie oder den Postboten (ohne Namen). Außerdem (denn natürlich geht es nicht nur um die historische Vorlage, sondern ebenso um das Bürgertum im 21. Jahrhundert): Therapeuten, Pilatestrainerin, Kosmetikerin, Schamanin und so weiter. Auch die Souffleuse kommt zu eigenen Ehren.

Sie alle (als Chor mit verteilten Rollen) rechnen Nora ihre Verfehlungen vor: die Ignoranz ihrer Anwesenheit im bürgerlichen Heim, die Streichung ihrer Figuren für den internationalen Gastspielbetrieb des Ibsen-Stücks, die allseits waltenden ökonomischen Ausbeutungszusammenhänge, die hinter Noras Karriere als feministische Galionsfigur, als "Cover der Vogue", als "Frau des Jahres in der Süddeutschen" stehen. Kurzum: Noras Leben auf Kosten der anderen. In einem eskalierenden, scheinbaren #MeToo-Konflikt mit dem Postboten zeigt sich dann äußerst sarkastisch, dass Noras Feminismus immer nur weiß und privilegiert war, nie "intersektional" und sensibel für die ökonomischen Formen von Ungleichheit in der Gesellschaft.

Worum geht es wirklich?

"Diese Show ist ein ausbeuterisches, patriarchales Konstrukt / Das hätte schon vor langer Zeit zerschlagen werden müssen." Der Feminismus, wie Nora ihn verkörpert, hängt weiter am Tropf des Patriarchats, so lernen wir. Und also knöpft sich die Autorin alles vor, was von diesem Patriarchat infiziert sein könnte. Die Fiktion ("Das Herrenhaus"), ihre Textform und ihren Autor. Für längere Passagen krabbelt die Figurenrede in die Fußnoten, während der Haupttext leer bleibt. In einem furiosen Schlussmonolog verabschiedet der Text Henrik Ibsen: "Die Gebeine unseres Autors / Machen nicht Platz für neues Leben." In letzter Instanz sucht Ben Yishai eine neue Poetik, die ohne die klassischen Darstellungsformen, ohne regierende Vaterfiguren, ohne das patriarchale Dispositiv des bürgerlichen Kanons auskommt.

Wie klingt das Stück?

Abgeklärt, direkt, sachbuchfähig, vollständig auf die politischen Faustformeln abgestellt, auch um den Preis, dass es manchmal etwas didaktisch wird ("Wir befinden uns im 21. Jahrhundert / Und dieses alte feministische Stück ist nicht mehr so relevant"). Aufgelockert wird der In-Your-Face-Statementstil durch schöne Running Gags (der Postbote muss ständig seine Namenlosigkeit betonen). In seinen besten Passagen, wenn Nora als ihre eigene Theater-Unternehmerin auftritt, klingt's wie früher bei Pollesch: "Warum bezahle ich Angestellte, die / die ganze Zeit hinter der Bühne / hocken, nichts tun, während ich mir / auf der Bühne die ganze Vorstellung / lang den Arsch aufreiße?!" Man hört förmlich die knarzende Ironie, mit der eine Sophie Rois solche Sätze sprechen würde.

Mindestens ebenso wichtig wie der (von Gerhild Steinbuch bestens aus dem Englischen ins Deutsche übertragene) Sound eines edgy Kunst-Aktivismus ist das Satzbild der Drucklegung des Stücks. Ben Yishai unterläuft die klassische Dramenform mit Rollennamen vor dem Doppelpunkt und sorgsam abgegrenzten Aussageteilen. Bei ihr fließt die Figurenrede quer über die Seiten, schlägt Kapriolen. Teile des Stücks laufen in den Fußnoten ab, während oben die Fußnotenzahlen Muster in der Manier der Konkreten Poesie zeichnen.

Wohin von hier aus?

Wer tiefer in die Geschichte der Nora-Figur eintauchen und den Spuren des historischen Feminismus nachgehen möchte, lese Elfriede Jelineks "Was geschah, nachdem Nora ihren Mann verlassen hatte" (von 1979). Als Experte für die Verblendungszusammenhänge in der Selbstverwirklichungsindustrie bietet sich der unlängst verstorbene Dramatiker René Pollesch für weitere Lektüren an. Wenn man ein Faible für Bilder aus Buchstaben hat, greife man zu Lyrikbänden von Eugen Gomringer.

Sivan Ben Yishai stellt ihre Poetologie der "Kompostierung", die sie im letzten Drittel ihres Textes entwirft, in die Tradition der Schriftstellerin Sophie Strand. Mit zwei Mottos verweist der Text auf einen Podcast, in dem Strand ihre ökologisch inspirierte Schreibauffassung erläutert: Sophie Strand on Myths as Maps.

(Christian Rakow)

Sivan Ben Yishai © Max Zerrahn

7 Fragen an die Autorin

Was steht bei Ihnen ganz am Anfang der Arbeit an einem Stück?

Am Anfang stehen (mindestens) einige Monate lang Seiten, die zwar mit Worten gefüllt, aber dennoch leer sind.

Was sollten Stücke können?

Sie sollen nichts, müssen nichts, können fast alles.

Worüber könnten Sie niemals schreiben?

Ewe sagte es schon: Das muss ich noch herausfinden.

Was ist Ihre liebste Behauptung über das Theater?

Ich mag Roland Barthes' Frage sehr: "Liebe ich es nicht mehr, oder liebe ich es zu sehr?" Und das, woran Mehdi Moradpour mich immer erinnert: "Ich glaube zu wenig an Systeme, um eine gut konstruierte Geschichte zu schreiben. Deshalb: immer weiter schreiben, immer weiter."

Welche Aussage sollte man nicht mit Ihrem Werk in Verbindung bringen?

Das weiß ich nicht. Aber vielleicht ist jetzt ein guter Zeitpunkt zu verkünden, dass dieser Text von mir auf Deutsch geschrieben und von einer KI korrigiert wurde.

Welcher Klassiker imponiert Ihnen? Und warum?

Ich würde sagen, dass ich am liebsten durch die beeindruckenden, aber auch die weniger bekannten Werke derer wandere, deren Schreiben ich schätze. Die Lektüre der Klassiker, aber auch der vergessenen Werke, verschafft mir Zugang zu den Zwischenräumen, die mich beim Schreiben am meisten interessieren: zwischen einem Text und einem anderen, zwischen dem Alltäglichen und dem Spektakulären.

An welchem Ort, abgesehen von Bühnen, würden Sie Ihr Stück gerne einmal aufgeführt sehen?

In einer Graphic Novel. Ich finde, dass das Medium dem Theater sehr ähnlich ist, nur oft zeitgemäßer und weniger verrückt.

 

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