Siegerin mit 3:2

Sivan Ben Yishai gewinnt den Mülheimer Dramatikpreis 2024. Mit ihrer Ibsen-Dekonstruktion "Nora oder wie man das Herrenhaus kompostiert".

Sivan Ben Yishai © Max Zerrahn

25. Mai 2024. Sivan Ben Yishai gewinnt mit ihrem Stück "Nora oder wie man das Herrenhaus kompostiert", uraufgeführt von Marie Bues am Schauspiel Hannover, den Mülheimer Dramatikpreis 2024. Der Preis ist mit 15.000 Euro dotiert. Ben Yishais Text (Deutsch von Gerhild Steinbuch) setzte sich in der Finalrunde mit 3 Stimmen gegen "Juices" von Ewe Benbenek (uraufgeführt von Kamila Polívková in Mannheim) durch (2 Stimmen)

Ebenfalls in der Finalrunde waren vertreten: "Laios" von Roland Schimmelfpennig, uraufgeführt von Karin Beier am Deutschen Schauspielhaus Hamburg und "The Silence" von Falk Richter, uraufgeführt vom Autor selbst an der Berliner Schaubühne.

Zuvor waren in der öffentlichen Jurydiskussion die anderen Wettbewerbsstücke ausgeschieden: "Baracke" von Rainald Goetz, uraufgeführt von Claudia Bossard am Deutschen Theater Berlin, "forecast : ödipus. living on a damaged planet (τύφλωσίς, II)", uraufgeführt von Stefan Pucher in Stuttgart und "Antrag auf größtmögliche Entfernung von Gewalt" von Felicia Zeller (uraufgeführt von Eike Weinreich in Oberhausen).

Der Preisjury gehörten an: Amanda Babaei Vieira (Schauspielerin), Anna Bergmann (Regisseurin), Anja Dircks (Dramaturgin), Maximilian Sippenauer (Kulturjournalist) und Franz Wille (Theaterkritiker und Mitglied der Auswahljury der Mülheimer Theatertage).

Sivan Ben Yishai wurde 1978 in Israel geboren. 2012 schlug sie in Berlin auf, erschrieb sich ihren Namen an Häusern wie dem Maxim Gorki Theater und als Hausautorin am Nationaltheater Mannheim. Mit ihrem dort entstandenen Stück "Wounds Are Forever (Selbstportrait als Nationaldichterin)" gewann sie 2022 den Mülheimer Dramatikpreis. Die diesjährige Mülheim-Einladung war ihre insgesamt vierte. 2022 und 2023 war sie Dramatikerin des Jahres in der Kritiker:innenumfrage von Theater heute.

Der undotierte Publikumspreis geht an "Laios" von Roland Schimmelpfennig in der Solo-Performance von Lina Beckmann (Regie: Karin Beier, Deutsches Schauspielhaus Hamburg).

(Christian Rakow)

Die Qual der Wahl

24. Mai 2024. Bald schon steht das große Finale bevor: Am Samstag wird der Mülheimer Dramatikpreis vergeben. Daneben wird auch ein Publikumspreis verliehen. Alle Zuschauer*innen bekommen vor den Vorstellungen einen viergeteilten Zettel ausgehändigt. Er gibt die Gelegenheit, das Stück im Anschluss danach zu bewerten, wie es gefallen hat: "sehr gut", "gut", "halbwegs", "gar nicht". Ich persönlich tue mich mit dieser Art der Abstimmung etwas schwer. Wieder und wieder stelle ich mir die Frage, ob ich denn überhaupt abstimmen sollte.

Es ist ein Konflikt zwischen unterschiedlichen Rollen. Ich bin hier in Mülheim als Kritikerin und Festivalbeobachterin tätig. Und wenn ich Kritiken schreibe, versuche ich natürlich, ausgewogen zu analysieren, zu kontextualisieren und einzuordnen. Abgesehen davon bin ich aber natürlich zugleich eine Zuschauerin wie jede andere auch, deren Meinung sich durchaus in ein Bewertungsschema einordnen lässt, das von "sehr gut" bis "gar nicht" reicht. Der Preis ist zudem ein undotierter Ehrenpreis, ich könnte also mit meiner Stimme nicht viel "kaputt machen". Und überhaupt ist so ein Publikumspreis doch eine wunderbare Gelegenheit zur Mitsprache.

AbstimmungDie Abstimmungsoptionen bei der Wahl zum Publikumspreis © sp

Trotzdem habe ich mich entschieden, nicht abzustimmen. Das habe ich schon 2022 nicht gemacht, als ich die Mülheimer Theatertage das erste Mal journalistisch begleitet habe (damals noch etwas grüner hinter den Ohren beim stücke.blog unter der Leitung von Sarah Heppekhausen). Ich habe es auch beim Festival "Radikal jung" nicht getan, das im April am Münchner Volkstheater stattgefunden hat und das ich ebenfalls als Bloggerin begleitet habe. Anders als hier in Mülheim geht es da sogar um einen Geldpreis.

Warum stimme ich nie ab? Zum einen weil ich meine Position abseits vom Festivalgeschehen verorte, in einer professionellen Distanz, die es zu wahren gilt. Es gibt aber darüber hinaus noch einen ganz profanen Grund: Ich bin notorisch schlecht darin, Entscheidungen zu treffen. So richtig differenziert ist diese viergliedrige Skala ja nun auch nicht. Was soll das schon sein; "sehr gut", "gut", "halbwegs", "gar nicht"? Wo ist da das "weiß nicht, was ich davon halten soll", wo das "gebt mir mal noch einen halben Tag, darüber nachzudenken"? Ja, das ist – zumindest wahrscheinlich – der wahre Grund: Ich will mich einfach nicht für einen Zettel entscheiden müssen.

(Svenja Plannerer)

Übesetzen Sie das Wort "Sniksnakdeppering"!

23. Mai 2024. Die Teilnehmenden der Werkstatt "Theater übersetzen" sitzen gerade an einem Ausschnitt aus Rebekka Kricheldorfs "Bondi Beach", als ich dazustoße, um mir ihre Arbeit anzuschauen. Die erste Schwierigkeit: das Konzept des sogenannten "döstädning" zu übersetzen. Damit ist der "Todesputz" gemeint, der in Schweden sehr weit verbreitet ist. Um den Angehörigen nach dem Tod so wenig wie möglich zur Last zu fallen, räumen Senior*innen vor ihrem Tod auf, misten aus, schmeißen unnützes Zeug weg. Wie das also ins mexikanische Spanisch, ins Polnische oder Japanische übertragen?

Hürde Nummer zwei: Die Wortneuschöpfungen der Autorin. Sie bestehen aus deutschen Wörtern, die verändert wurden, um sie pseudo-schwedisch klingen zu lassen. Dabei kommen Begriffe wie "Sniksnakdeppering" und "Lievbrieffezzing" heraus. Schwierig, hier den Witz in die Zielsprache mitzunehmen. Im Slowenischen gebe es keine Vorstellung davon, wie etwas pseudo-schwedisch klingen könnte, sagt Anja Naglič. Deng Zhang meint, man könnte versuchen, bei der Übersetzung der Neologismen die Laute in chinesische Zeichen zu übertragen. Dabei komme zwar nur Nonsens heraus, dafür bleibe es witzig und die Erklärung erfolge ohnehin im Dialog der Szene.

Werkstatt 2024Die Übersetzer*innen mit Thomas Köck (Mitte) © Anja Naglič

Um diesen Schwierigkeiten zu begegnen, diskutiert die Gruppe unter der Leitung von Übersetzerin Barbara Christ viel. Natürlich zunächst über Bedeutung und kulturelle Kontexte im Deutschen, aber auch über die Hintergründe der anderen Kulturen, die mit am Tisch sitzen. Die Teilnehmenden kommen aus Spanien, Frankreich, Polen, Slowenien, Russland, Mexiko, Japan und China. Andrea Zagorski vom Internationalen Theaterinstitut (kurz ITI), die zweite Leiterin der Werkstatt, erklärt, dass bei der Auswahl der Teilnehmenden neben ihren Erfahrungen im Theater und mit Übersetzung auch darauf geachtet werde, eine gute Mischung herzustellen, die sich gegenseitig befruchte. Dass das gelingt, wird im regen Gespräch am Tisch sehr deutlich.

Tatiana Zborovskaya aus Russland freut sich sehr darüber, bereits zum zweiten Mal dabei sein zu dürfen. Hier könne sie sich fortbilden und den eigenen Fortschritt beobachten. Jacek Kaduczak ergänzt, hier finde er die Möglichkeit, sich innerhalb der Nische einer Nische mit Gleichgesinnten auszutauschen. Und natürlich sei es von Vorteil, sich die neuesten Stücke ansehen zu können und darüber zu diskutieren – nicht nur mit den anderen Teilnehmenden, sondern auch mit den Autor*innen selbst.

Am Tag zuvor haben die Teilnehmenden mit Thomas Köck über sein Stück forecast:ödipus gesprochen. Worauf gilt es seiner Meinung nach zu achten, mehr auf Rhythmus, Inhalt, Lautlichkeit? Ein Austausch, der sonst im Übersetzungsalltag eher schriftlich per E-Mail stattfindet.

Der Sound eines Textes ist beim Übersetzen auf jeden Fall immer wichtig. Ich freue mich daher sehr, dass die drei Teilnehmenden Maria Bosom (Katalanisch), Takuya Maehara (Japanisch) und Deng Zhang (Mandarin) mir erlaubt haben, zwei kurze Zitate ihrer Übersetzungsarbeit an "forecast:ödipus" aufzunehmen. Viel Spaß beim Lauschen!

(Svenja Plannerer)

Da fehlt jemand

22. Mai 2024. Mir ist in den letzten Wochen so oft eine Frage gestellt worden, dass ich ihr jetzt doch nachgehen musste: Wo ist eigentlich René Pollesch? Genauer: Warum fehlt ja nichts ist ok dieses Jahr in Mülheim (Polleschs letztes Stück, das in Berlin so etwas wie der Hit der Saison ist)?

Die Mülheimer Auswahl wurde am 19. März 2024 bekannt gegeben, ziemlich genau einen Monat nach der Pollesch-Premiere. Allerdings war der Auswahlprozess schon geraume Zeit vorher abgeschlossen. Die Sichtungen für die Jury endeten am 15. Januar 2024. "ja nichts ist okay" fällt mithin in die neue Auswahlperiode (16. Januar 2024 bis 13. Januar 2025). Müssen sich die Pollesch-Fans also bloß gedulden?

So einfach ist es nicht. Die Regularien der Mülheimer Theatertage sehen vor, dass für das Festival "alle originär dramatischen, deutschsprachigen Stücke lebender Autor*innen nominiert werden" können. Und René Pollesch ist bekanntlich zwei Wochen nach seiner letzten Premiere in Berlin verstorben.

Sein Beitrag lebt, aber der Autor ist tot. Geht Mülheim damit eines der wichtigsten neueren Dramen verloren?

Pollesch Rene 2002 01 CDavidBaltzerRené Pollesch im Jahr 2002 © David Baltzer / bilduehne.de

Was hat es überhaupt mit dieser Lebendigkeits-Klausel auf sich? Vor allem will man mit ihr verhindern, dass steinalte Werke ausgegraben und als Novität auf die Bühne gebracht werden (in Graz kam jüngst das bürgerliche Trauerspiel Düval und Charmille von Christiane Karoline Schlegel aus dem Jahr 1778 zur Uraufführung). Mülheim ist natürlich ein Festival der schreibenden Zeitgenossinnen und Zeitgenossen.

Zugleich verbinde sich mit dem Akzent auf "lebenden" Dramatiker*innen aber auch ein "Förderzweck", erklärt die Festivalleitung auf Nachfrage. "Es soll die Arbeit von Autor*innen gefördert werden."

Wenn man sich tiefer in die Kasuistik begibt, wird es diffizil. Bis wann muss ein*e Autor*in leben? Bis zum Festival-Gastspiel? Bis zur Entscheidung der Preisjury? Man dürfe "den jeweiligen konkreten Fall nicht aus dem Blick verlieren", schreibt die Festivalleitung. Die Regularien seien "ja menschengemachte Regeln, keine Naturgesetze".

Wenn man erst einmal nominiert ist, gibt es also einen Ermessensspielraum, den Festivalleitung und Jury ausfüllen müssen.

Für Polleschs letztes Drama aber sieht es schlecht aus, wenn die besagte Mülheimer Einladungsklausel streng ausgelegt wird.

PS. Eine kleine Überlegung zur Güte: Die Mülheimer Auszeichnung wurde 2020 von "Dramatikerpreis" in "Dramatikpreis" umbenannt. Was nicht nur eine genderneutrale Formulierung ist, sondern auch eine werkorientierte. Die Person fällt weg. Mülheim feiert sich mit dem neuen Namen als Ort des genuinen Schreibens. Frei nach Roland Barthes: Der Tod des Autors ermöglicht das Eigenleben des Textes. Und herausragende, lebende Dramen in frischer Uraufführung sind nun wirklich was für den Wettbewerb.

(Christian Rakow)

Raus aus den Hinterzimmern!

20. Mai 2024. Heute ist spielfrei, das Festivalprogramm ist unterbrochen, ganz Deutschland genießt den Rest seiner Pfingstferien, nur das Feuilleton kommt nicht zur Ruhe. Denn seit Mittwochnachmittag herrscht helle Aufregung im Literaturbetrieb. Was ist geschehen? Die Kulturjournalistin Juliane Liebert und die Autorin und Kolumnistin Ronya Othmann hatten in einem Artikel auf Zeit Online gemeinsam über ihre Erfahrungen in der Jury des letztjährigen Wettbewerbs um den Internationalen Literaturpreis geschrieben. Der mit insgesamt 35.000 Euro üppig dotierte Preis wird alljährlich an ein "herausragendes Werk der internationalen Gegenwartsliteratur" vergeben. Oder – hoppla! – vielleicht auch nicht?

Liebert und Othmann jedenfalls behaupten, dass die anderen Mitglieder der Jury ihre Entscheidungen nicht, wie die Statuten verlangen, von der literarischen Güte, sondern von identitätspolitischen Merkmalen abhängig gemacht hätten. Eine nominierte Autorin sei der Jury beispielsweise zu weiß gewesen, ein anderer Autor darüber hinaus zu männlich, zu erfolgreich und privilegiert. Othmann und Liebert sparen in ihrem Text nicht an peinlichen Zitaten: "Kein Grund, persönlich zu werden: Du als weiße Frau hast hier eh nichts zu sagen!", soll eine – leicht zu identifizierende – Jurorin etwa im Streit zu Liebert gesagt haben. Und ein anderer soll erklärt haben: "Sorry, ich liebe Literatur, aber Politik ist wichtiger."

IMG 9438 Edit copy2 72dpiDie Jury des HKW-Literaturpreises © Malte Seidel / HKW

Unter den ersten Stimmen, die auf den Artikel reagierten, war die Literaturkritikerin Insa Wilke, die man als Profi-Jurorin bezeichnen kann. Lang, sehr lang ist die Liste der Entscheidungsgremien, in denen sie bereits saß. Man könnte dementsprechend davon ausgehen, dass sie sich beschämt zeigt angesichts der geschilderten Zustände. Doch das Gegenteil ist der Fall: Wilke zieht zunächst einmal in Zweifel, dass die Jurydiskussion tatsächlich so abgelaufen wäre wie beschrieben. Doch selbst wenn, hätten die kritisierten Jurorinnen und Juroren ihr zufolge nichts falsch gemacht. Wilke verweist den Anspruch, Bücher ausschließlich nach ihrer literarischen Güte zu bewerten als eine "Suche nach dem heiligen Gral" ins Land der Märchen und skandalisiert stattdessen das Erscheinen des Artikels "als fundamentales medienethisches Versagen".

In einem folgenden Interview mit dem NDR bekräftigt sie ihre Vorwürfe gegen die Autorinnen und die Zeit-Redaktion, die sich mit dem Artikel hätten profilieren wollen. "Die Arbeit von Literaturkritiker*innen ist bedroht. Wie sollen wir in Zukunft in Jurys verhandeln, wenn wir nicht wissen, ob irgendwer damit an die Öffentlichkeit geht?" In dasselbe Horn stößt Andreas Platthaus von der FAZ, ebenfalls ein gefragter Juror. Auch er erkennt den eigentlichen Skandal nicht in den kritisierten Vorgängen, sondern im Erscheinen eines Artikels, der die Jury und auch die nominierten Autoren schädige.

Aus der Trickkiste

Warum aber soll unbedingt geheim bleiben, was auf einer Jury-Sitzung gesagt wurde? Laut Wilke könnten Jury-Mitglieder nur frei diskutieren, "wenn sie darauf vertrauen können, dass von diesen Diskussionen nichts nach außen dringt". Das ist aber keine befriedigende Begründung. Im Gegenteil wäre doch zu hoffen, dass oftmals mit Steuergeldern finanzierte Preise in Diskussionen vergeben werden, die Öffentlichkeit nicht scheuen müssen.

Dirk Knipphals von der taz liefert eine detailliertere Erklärung. Die Verschwiegenheit habe nichts mit Mauschelei zu tun, "sondern damit, dass eine produktive Jurysitzung, in der verschiedene Ansichten über Literatur aufeinanderprallen, einen geschützten Raum braucht, in dem die Beteiligten verbal die Samthandschuhe ausziehen können." Knipphals präzisiert: "Rhetorische Tricks und Dramatisierungen gehören dazu." Nun, das ist interessant! Es geht also in Jurys gar nicht, wie man annehmen könnte, um einen offenen Austausch von Argumenten, sondern darum, seine Ziele mit "rhetorischen Tricks und Dramatisierungen" zu erreichen. Nur warum bloß? Würden Jurorinnen und Juroren denn ohne Anwendung von Tricks zu schlechteren Ergebnissen kommen?

Ungeachtet der Frage, ob es ethisch oder rechtlich vertretbar war, den Artikel von Liebert und Othmann zu publizieren, zeigt sich in der Debatte tatsächlich der hohe Wert öffentlicher Jurysitzungen, in denen auch bei den Mülheimer Theatertagen die Preise vergeben werden. Ein Skandal wie in Berlin wäre hier gar nicht denkbar, vor allem aber müssen nachvollziehbare Argumente formuliert werden. Das schmälert die Macht der Juroren in dem Maße, in dem sie sich hier im Vollzug zeigt und sie nicht verdeckt ausgeübt werden kann. Preisentscheidungen sind dann nicht per se schon durch ein Verfahren legitimiert, das hinter verschlossenen Türen eingehalten oder missachtet werden kann, sondern müssen sich coram publico überhaupt erst beweisen. Davon profitieren im besten Falle alle Beteiligten: die Institutionen, die Preisträger und nicht zuletzt auch die Juroren.

(Michael Wolf)

No Sleep Till Mülheim

19. Mai 2024. Die Woche der KinderStücke ist vorüber. So reichen Falk Lörcher und Georg Kasch den Staffelstab weiter an Michael Wolf und mich, Svenja Plannerer. Wir beide werden das Festival nun bis zum großen Finale begleiten.

Ich habe mich dazu entschieden, ausnahmsweise in guter alter Roadtrip-Manier mit dem Auto anzureisen. Von Nürnberg aus, vorbei an Würzburg, Frankfurt am Main, Köln und Düsseldorf bis nach Mülheim war ich etwa fünfeinhalb Stunden auf der A3 unterwegs, die meiste Zeit ziemlich stur geradeaus. Begleitet vom neuen Album von Billie Eilish und einem True-Crime-Podcast ließ sich das eigentlich ganz gut aushalten. Dem Ferienverkehr bin ich dabei weitestgehend entgangen, meistens staute es sich eher auf der Gegenseite der Fahrbahn. Die meisten wollen wohl eher in den Süden, Urlaub machen. Dabei ist es doch gerade in Mülheim so spannend?!

1024px Würzburg West01 2011 09 25Autobahnkreuz Würzburg West © KlausFoehl CC BY-SA 3.0

Das erste, was für mich nach der Ankunft anstand? Die Wohnung erkunden und Kaffee trinken, natürlich. Der war auch dringend nötig, schließlich lag meine erste große Aufgabe für die Theatertage schon vor mir: die Kritik zu Falk Richters "The Silence". Als wir aus der Vorstellung kamen, zweifelte ich schon fast, ob ich das überhaupt schaffen würde. So rein konstitutionell, meine ich. Halb fürchtete ich, mir würden beim Tippen die Augen zufallen, so müde war ich inzwischen geworden. Aber nachtkritik.de heißt nunmal nachtkritik.de, weil die Texte direkt am nächsten Morgen erscheinen und "über Nacht" entstehen.

Ich habe mich umsonst gegrämt, den Text habe ich zum größten Teil noch am selben Abend fertig bekommen. Um halb eins in der Nacht konnte ich endlich meine Äuglein schließen. Am nächsten Morgen um kurz nach halb acht werkelte ich noch etwas daran herum und konnte ihn pünktlich zum Redaktionsschluss abschicken. Wie gut aber, dass ich Kolleg*innen habe, die die Texte noch etwas glattbügeln, bevor sie online gehen – sonst bliebe unseren Leser*innen wohl das ein oder andere meiner Worte schleierhaft.

(Svenja Plannerer)

Einstimmig entschieden

17. Mai 2024. Die ersten zwei Preise sind vergeben. Armela Madreiter wird für südpol.windstill mit dem Mülheimer KinderStückePreis 2024 ausgezeichnet. Der Preis ist mit 15.000 Euro dotiert.

Bis zuletzt war in der öffentlichen Jurydiskussion auch Henner Kallmeyers Stück Troja! Blinde Passagiere im trojanischen Pferd im Rennen. Nach öffentlicher Debatte votierte die Jury soeben dennoch einstimmig für "südpol.windstill". Ihr gehörten die Regisseurin Ebru Tartıcı Borchers, die Kulturjournalistin Anne Fritsch und der Autor Björn Hayer an.

"südpol.windstill" erzählt für Kinder ab neun Jahren die Geschichte von Ida, die in prekären Verhältnissen aufwächst. Mit ihrem imaginären Freund Robert Falcon Scott, dem Entdecker, bereitet sie sich auf künftige Expeditionen vor – und schafft es zugleich, einen differenzierten und dennoch liebevollen Blick auf ihre Mutter zu entwickeln.

Muehlheim KinderStueckePreis Armela Madreiter Henner Kallmeyer CDanielaMotzkus uKinderStücke-Siegerin 2024 Armela Madreiter und der Favorit der Jugend-Jury Henner Kallmeyer © Daniela Motzkus

Armela Madreiter, Jahrgang 1992, war als freie Dramaturgin, Co-Regisseurin und Autorin in Wien tätig, unter anderem für die Theaterkollektive wohingenau und Hira*. Seit 2018 arbeitet Madreiter vermehrt als Dramaturgin, etwa für die Sparte jung&jede*r im Rahmen der Salzburger Festspiele. Sie schreibt Texte für junges und erwachsenes Publikum.

Zum neunten Mal vergab in diesem Jahr auch eine Jugend-Jury ihren eigenen Preis. Die sieben Schülerinnen im Alter von 12 bis 16 Jahren zeichneten "Troja! Blinde Passagiere im trojanischen Pferd" von Henner Kallmeyer aus. In ihrer Würdigung lobten sie, dass das Stück sie "besonders berührt" habe.

(Mülheimer Theatertage / Michael Wolf)

"Boa, wie geil!"

15. Mai 2024. Zu den schönen Dingen im Kindertheater gehört es, während der Vorstellung den Kindern mit ihren teils so unverblümten Zwischenrufen zuzuhören. Da erlebt man sie mit allen Sinnen: die autopoitische Feedback-Schleife nach Erika-Fischer Lichte, die ansonsten im Theaterwissenschaftsstudium in den Grundlagen gelehrt wird.

Hier daher ein paar Bocken, die ich heute bei der 9 Uhr Vorstellung von Winterkind und Herr Jemineh aufschnappen durfte:

"Der mit lila Haare is gay!"

"Uiiii" oder "Boa, wie geil!" (als die Nebelmaschine zum Einsatz kommt)

"Halt die Fresse!"

"Justin Bieber!"

Und meine Highlights:

"Sind die Schlümpfe?"

"Willst du Sonnenblumenkern?"

Für das Kritikschreiben sind solche Zwischenrufe interessant, denn man spürt im Saal sehr direkt, an welchen Stellen die Kinder unruhig werden und sich langweilen, und welche Szenen sie packen und begeistern.

Vor der zweiten Vorstellung von "Winterkind und Herr Jemineh" gab es noch eine weitere, kleine, Aufführung im Foyer des Theaters an der Ruhr anzusehen. Elf Schüler*innen der "Patenklasse" zeigten ein Stück, das sie gemeinsam mit Theaterpädagogin Mayra Capovilla entwickelt haben.

In Regenmänteln mit spitzen Kapuzen gekleidet, stehen sie in einer Reihe vor dem Publikum. Über Lautsprecher werden Regengeräusche abgespielt. "Wollen wir Pferde reiten?", fragt ein Kind, das aus der Reihe hervortritt. "Langweilig!", rufen die anderen im Chor. Wovon sie träumen? Vom Abenteuerland. Und für die Reise dorthin packen sie ihren Abenteuerkoffer.

Während Shakiras "Waka Waka (This Time for Africa)" (dieser WM Song von 2010, an den sich die jungen Spieler*innen selbst wohl kaum erinnern dürften) vom Band läuft, verteilen sie sich auf der Bühne und beginnen, Spiele wie Hula Hoop und Uno zu spielen. Die Regenmäntel haben sie inzwischen ausgezogen. Sie sind wohl angekommen, im Abenteuerland.

(Falk Lörcher)

Brücke zur Bühne

14. Mai 2024. Ein weiterer Festival-Tag in Mülheim neigt sich dem Ende zu. Die Sonne scheint über der Ruhr, die Pollen fliegen, der Heuschnupfen knallt. Der Tag startete schon sehr früh – um 9 Uhr – mit der ersten Aufführung von südpol.windstill vom Jungen Theater Heidelberg. Ich kann meinem Kollegen Georg Kasch nur zustimmen, der in seiner Kritik von Momenten spricht, "für die man gut gemachtes Kindertheater liebt".

Nach einer längeren Mittagspause habe ich mich am Nachmittag mit Mayra Capovilla, die als Theaterpädagogin für die Mülheimer Theatertage arbeitet, auf einen Kaffee getroffen. Im Schatten des Ringlokschuppens haben wir uns ausgetauscht zu den Stücken, die wir in den vergangenen Tagen gesehen haben und zu denen, die wir in den kommenden Tagen noch sehen werden. Und zu Kulturvermittlung und Theaterpädagogik.

Für jede Kindertheater-Produktion, die nach Mülheim eingeladen ist, gibt es ein umfangreiches Vermittlungsprogramm. Neben kurzen, einführenden Workshops und Publikumsgesprächen hat jede Inszenierung eine "Patenklasse". In einem dreistündigen Workshop arbeitet diese zu den Stoffen, die auf der Bühne verhandelt werden. Mayra Capovilla kommt für diese Vorbereitung in die Schulen, um mit den Schüler*innen Impro-Theater zu spielen oder spielerisch Zugänge zum Stoff zu schaffen – auch zu komplexen Themen. In den Foyers der Theater können Bastelarbeiten der "Patenklassen" betrachtet werden, die sie für das jeweilige Stück eigens angefertigt haben.

KugelnMit Bastelarbeiten bereiten sich die Schulklassen auf die Theaterstücke vor: hier eine Arbeit zu "südpol.windstill" © flo

Das Angebot ist für die Schulen und die Schüler*innen selbst kostenlos und wird im Zeitraum des Festivals gut angenommen. Allerdings ist die Beteiligung von Schulen stark abhängig von engagierten Lehrkräften, wie Capovilla berichtet. Über die letzten Jahre war zu beobachten, wie die Ressourcen an den Schulen selbst knapper wurden. So macht sich auch der Lehrkräftemangel bemerkbar. Mitunter fällt für Schulklassen der Theaterbesuch aus, weil es nicht genug Kapazitäten für die Betreuung der Schüler*innen gibt.

Vermittlung im Kindertheater, das ist mindestens genauso wichtig wie das Theater selbst. Denn wie sonst kann das junge Publikum direkt angesprochen werden? Wie lassen sich Kinder und Jugendliche ins Theater bringen, die sich von selbst niemals dorthin begeben würden? Im Feld der rasant wachsenden, diversen Kulturangebote stellt die Theaterpädagogik eine Einladung dar, eine Brücke zur Bühne.

(Falk Lörcher)

Sofies Schweigen

13. Mai 2024. Gestern eröffnete der Wettbewerb um den Kinderstückepreis so entspannt wie unspektakulär: Vor dem Theater an der Ruhr gab's unter Sonnenschirmen zwischen Luftballons und Festival-Fahnen Saft, Kaffee und reichlich Kuchen für all die Familien, die ihren Sonntagnachmittag mit Kultur verbringen wollten. Keine Rede, keine irgendwo anders reingeschmuggelten festlichen Worte. Stattdessen Spielzeugboxen und Kindergewimmel.

Das Gastspiel "Geschichten vom Aufstehen" erinnerte selbst ein wenig an ein Wimmelbild. Das war offenbar auch die Ausgangsidee des Theater Junge Generation (tjg) Dresden, wie Autor Thomas Freyer im Nachgespräch mit der Jugendpreisjury erzählte, Schülerinnen zwischen 13 und 15, die zwei lange Wochenende dafür geopfert haben, um gemeinsam die eingeladenen Texte zu lesen und zu diskutieren. Und nun teils die Schule verpassen, um Theater zu gucken und ihre Entscheidung zu treffen.

Das Schöne am Wimmelbild-Ergebnis: Die Charaktere und Konstellationen sind vielfältig. Nicht unproblematisch allerdings, dass dabei einzelne Figuren zu kurz kommen. Im Zentrum stehen drei (miteinander über Kinderfreundschaften oder Berufsbekanntschaften verbundene) Familienkonstellationen, die alle ihre Leerstelle haben: weder Tim, der zweite Vater von Rabea und Danny, noch der Urgroßvater von Ben oder Sofie, Frederiks Schwester, die mit einer Behinderung lebt, haben einen Auftritt.
 
EroeffnungKinderstueckeDas Mülheimer Theater an der Ruhr: einer der Spielorte der Kinderstücke © geka
 
Das ist erstmal konsequent, weil es um die Perspektive der Kinder geht, die damit jeweils ein Problem haben. Aber insbesondere im Fall von Sofie bleibt so stehen, dass es zwar eine Figur mit Behinderung gibt, sie aber keine eigene Stimme erhält. Erst in der Alptraumszene, in der die Konflikte aller drei Kinder kulminieren, spricht Sofie – aber durch den Mund von Frederik, der begreift, dass nicht nur er eine "normale" Schwester, sondern sie vielleicht auch einen Bruder will, der sie liebt.
 
Verstärkt wird der Eindruck, dass Sofie hier eine narrative Prothese ist, durch die Inszenierung. Wenn Frederik mit Sofie spricht oder sich in ihre Richtung wendet, dann immer über den linken Rand der Spielfläche hinaus, ins Abseits. Das ist natürlich immer noch besser, als Sofie von einer oder einem nicht-behinderten Schauspieler*in verkörpern zu lassen. Aber so bleibt da eben eine Leerstelle, die auch deshalb so auffällt, weil mit Vater Tim eine der drei Referenzfiguren am Ende doch noch auftaucht – eine Entscheidung, die während der Proben gefällt wurde, wie das Team beim Gespräch mit der Jugendstückejury erzählt.
 
Wäre es also besser, in ähnlichen Kontexten ganz auf eine Figur mit Behinderung zu verzichten und Behinderung damit völlig unsichtbar zu machen? Anders wird ein Schuh draus: Um Figuren mit Behinderung auf der Bühne erzählen zu können, braucht es Raum für Charaktere und ihre Probleme und Herausforderungen jenseits ihrer Behinderung. Und Raum für Schauspieler*innen mit Behinderung gerade auch in Rollen, die nicht als behindert definiert sind. Dann klappt's auch mit der Repräsentation ganz ohne Leerstellen und Cripping up.
 
(Georg Kasch)

 

Aufmerksamkeit, Ruhm, Geld

12. Mai 2024. Und wieder ein Teamwechsel: Gestern ist Marlene Drexler abgereist, heute kommt Falk Lörcher als neuer Redakteur dazu. Er springt gleich mitten hinein in die Eröffnung des Wettbewerbs um den Kinderstückepreis, der heute mit Thomas Freyers "Geschichten vom Aufstehen" beginnt. Die Theatertage zeigen heute und morgen die Uraufführungs-Inszenierung von Jan Gehler, der 2006 mit seiner Werkstattinszenierung von Freyers "Separatisten" zum Regiefestival Körber Studio Junge Regie nach Hamburg eingeladen wurde und seitdem mehrere Stücke des Autors inszeniert hat.

Gerade weil sich die Mülheimer Theatertage über einen vergleichsweise langen Zeitraum erstrecken und es nicht jeden Tag Vorstellungen gibt, vergisst man manchmal, dass es sich um einen Wettbewerb handelt, bei dem es um etwas geht: Aufmerksamkeit, Ruhm, Geld. Wie übrigens auch beim Eurovison Song Contest. Hier wie dort gewinnen nicht immer diejenigen, die es verdient haben. Oft wirken die Entscheidungen der Jurys wie des Publikums rätselhaft. In diesem Jahr aber hatten sie ein gutes Händchen: Mit Nemo und "The Code" hat mein*e Favorit*in gewonnen. Das passiert beim ESC nur alle paar Jahre. Bei den Mülheimer Theatertagen allerdings auch. Mal schauen, wie die Sache in diesem Jahr ausgeht.
 
(Georg Kasch)
Wie in der Oper

11. Mai 2024. Eines der Dinge, die man von Berlin (oder auch anderen Metropolen in Nord, Ost und Süd) schwer begreift, ist die Vernetztheit der Rhein-Ruhr-Region. Dass da zwar Dortmund, Bochum, Düsseldorf auf den Ortseingangsschildern steht, dass sie aber alle mit S- und "U"- und Straßenbahn (was hier halbwegs dasselbe ist) und Bus verknüpft sind. Nach Köln braucht man von Mülheim mit den Regionalbahnen eine gute Stunde, in Dortmund ist man etwas schneller, Essen liegt um die Ecke. 

Was auch bedeutet: Die Kulturlandschaft mit ihren vielen Theatern und Opernhäusern ist riesig! Es gibt kaum einen Abend, an dem nicht irgendwo was Spannendes läuft – was man sich bei einem Festival wie den Mülheimer Theatertagen, an dem nicht jeden Abend eine neue Aufführung läuft, zunutze machen kann. Gestern etwa war ich in der Oper Dortmund: "La montagne noire". Noch nie gehört? Das könnte daran liegen, dass die Komponistin Augusta Holmès zwar Ende des 19. Jahrhunderts ziemlich berühmt war, danach aber von der männlich dominierten Musikwissenschaft und Aufführungstradition schnell vergessen wurde.

OperDortmund gekaDas "Montagne noire"-Ensemble der Oper Dortmund beim Schlussapplaus © geka

Jetzt hat Dortmund das Werk, das 1895 in Paris für Furore sorgte, wiederausgegraben – es ist überhaupt die erste Nachinszenierung seit der Uraufführung. Wie bei vielen weniger bekannten Zeitgenoss:innen hört man den Einfluss von Verdi ("Don Carlos") und Wagner ("Tannhäuser") deutlich, leider auch den von Holmès Lehrer César Franck – immer, wenn man denkt, da geht jetzt nichts mehr, legt Holmès noch eine Pathos- und Klangschicht drauf, ohne dass das die Wirkung oder Tiefenstruktur der Musik verändern würde. Erzählt wird eine glühende Liebesgeschichte um die Femme fatale Yamina (ein Hauch von Bizets "Carmen" umweht sie).

Was diesen Historienschinken interessant macht, sind – neben ein paar wirklich stark komponierten Szenen im zweiten Akt – zwei Aspekte der Handlung (Holmès schrieb auch das Libretto). Yamina wird von den Montenegrinern gefangen, von Mirkos Mutter als Sklavin gehalten. Auf Bullshit-Jobs aber hat sie keine Lust. Den Frauen hält sie vor, sich von den Männern zu Dienstmägden erniedrigen zu lassen. Und die Frauen? Revoltieren für einen kurzen Moment (zumindest in der Dortmunder Inszenierung von Emily Hehl).

Am Ende überleben übrigens die Frauen, ihre männlichen Verehrer (und Verfolger) sterben im Zweikampf, und werden dann vom Volk fälschlicherweise als Helden, die im Kampf fielen, verklärt. Das wirkt aus heutiger Sicht wie eine Demontage des Heldentums per se. Was man ja auch in vielen zeitgenössischen Dramentexten finden kann.

(Georg Kasch)

Hauptstadt der Freundlichkeit

10. Mai 2024. Neues Team, neues Glück: Seit gestern ist – zusammen mit Marlene Drexler – mit Georg Kasch ein neuer Senior Editor am Start.

DrexlerKasch KaschMarlene Drexler und Georg Kasch vor dem Theater an der Ruhr © geka

Mein erster Eindruck von Mülheim: klein, tot, unfreundlich (Achtung: Urteile über eine Stadt nie an einem Feiertag). Mein zweiter: grün, weit, ein Ort der offenen Portale und Türen. Denn nach getaner Nachtschicht haben wir heute weitere Ecken erkundet: Schloss Broich, den Ringlokschuppen (wo zwei Kinderstücke und das Jugendstück laufen werden), die Wege an der Ruhr entlang. Fazit bei Sonnenschein: schön hier!

ParkPortalIm Park von Schloss Broich © geka

Und dann natürlich die Leute. Freundliche Kassiererin in der Drogerie, freundlicher Barista im Café, freundliche Bäckerei-Verkäuferin, freundliche Kellnerin in der Mittagspause. Und, fast vergessen: freundliche Frau im Nippes-Laden. Gut, weder in Berlin noch in Thüringen sind wir jetzt wahnsinnig verwöhnt mit Freundlichkeit. Aber diese warme Dusche an Liebenswürdigkeit und echter Zuwendung, die man ja nicht nur hier, sondern überall im Ruhgebiet erfährt, ist schon speziell. Und herrlich entspannend.

(Georg Kasch)

Strenger als die Nachtkritik

9. Mai 2024. Uns hat über Umwege die Frage erreicht, warum das Festivalportal von nachtkritik.de gelegentlich strenger ist als die ursprüngliche Nachtkritik am Uraufführungsort: "Erst sagt die Nachtkritik so, und dann plötzlich so?"

Das ist zum einen recht leicht zu beantworten: "Die Nachtkritik" als solche gibt es natürlich nicht, so quasi als zentralistisches Organ mit dem Ruch der Unanfechtbarkeit. Nein. nachtkritik.de ist ein Autor*innenfeuilleton, und da haben alle Kritiker*innen ihren eigenen Kopf und ihren eigenen Geschmack. Wichtig ist nur, wie immer bei Kritik, dass die Gründe für das je subjektive Geschmacksurteil relativ transparent an der Rezension abzulesen sind.

Das ist die erste Antwort. Aber es gibt natürlich noch eine etwas verzweigtere. Kritik ist ganz genau wie das Theater selbst vom Kontext abhängig. Was an einem Spielort das Richtige und durch und durch Gute ist – die passende Stoffwahl, das perfekte Gespür fürs eigene lokale Publikum – kann andernorts kolossal absaufen. Grelles Beispiel: Man stelle sich ein touristisches Spektakel wie "Störtebecker" aus Ralswieck/Rügen am Bochumer Schauspielhaus vor. Uiuiui. Theater ist nicht überall das gleiche.

Stadthalle MH mdSpielort, Ballungsort von Stücken und Ort der Ausbildung von Maßstäben: die Mülheimer Stadthalle © md

Die Mülheimer Theatertage sind ihrem Selbstverständnis nach und tatsächlich auch in der Wahrnehmung der Theaterwelt die Auswahl des "Besten der Gegenwartsdramatik". Hier bildet sich das ab, was das Verständnis von zeitgenössischem Schreiben und von zeitgenössischer Bühnenästhetik prägt. Ein abstrakteres Diskurs-Verständnis sozusagen, auf das sich die einzelnen Individuen (die Kritiker*innen wie auch die Theaterschaffenden) beziehen. Hier entstehen die "Referenzpunkte", von denen man idealerweise in Jahren noch sagen kann: "Felicia Zeller mit 'Kaspar Häuser Meer' oder Ewald Palmetshofer mit 'hamlet ist tot. keine schwerkraft' – hast Du das damals in Mülheim gesehen? Da wurde doch eine Tür aufgestoßen!"

In der engen Zusammenschau des Bemerkenswerten stellt sich die Optik schärfer: nicht nur auf das, was in der Saison herausragt (diese Auszeichnung ist natürlich mit der Einladung nach Mülheim schon vorgenommen), sondern auf das, was über den Tag hinaus bleibt und exemplarisch wird. Mülheim ist idealerweise der Ort, an dem sich die nachhaltigste Auseinandersetzung um Ästhetiken abspielt (nicht nur um gute Inhalte, gute Stoffe). Auf dem Festival entsteht das ästhetische Wissen, von dem auch wir Kritiker*innen später in unserer täglichen Arbeit zehren, ein Wissen um die Theaterkunst, das uns erlaubt, aus dem jeweiligen lokalen Publikum herauszutreten und zu sagen: "So und so habt Ihr es unmittelbar erlebt, und das sei unbenommen! Aber ich sage Euch, welche Rolle unser Erlebnis hier und jetzt draußen in der Welt des Theaters spielt und wie es der Kunstform als solcher etwas hinzufügt oder eben nicht." Dieses kritische Urteil ist, wie gesagt, abstrakter und ja, auch strenger. Aber diese Strenge ist man der Kunst schuldig.

(Christian Rakow)

Teamwechsel

8. Mai 2024. Das Team wechselt. Während Marlene am Interview mit Lina Beckmann arbeitet, rollt Christian im ICE nach Berlin, wo am Abend "Extra Life" von Gisèle Vienne beim Theatertreffen läuft (de facto findet dieser Abend in Potsdam statt, Berlin ist also nur Umsteigebahnhof). Georg, der den Berliner/Potsdamer Abend im Theatertreffen-Shorty besprochen hat, kommt am Donnerstag nach Mülheim. Also großes Umrangieren.

Screenshot Instagram Abreise

Unsere 10 ersten Highlights

7. Mai 2024. Die Mülheimer Theatertage haben sich warmgelaufen. Wir – das Einstiegsduo Christian und Marlene – haben unseren ersten theaterfreien Abend genutzt, um unsere zehn besten Mülheim-Momente zu sammeln. Transparenzhinweis: Zwei Nächte in Folge mit wenig Schlaf haben Anlass zu einem Instagram-Filter gegeben.

1. Der erste Monolog von Mareike Beykirch in Rainald Goetz' "Baracke" 2. Die Disco-Moves von Mareike Beykirch (ebenfalls am Start) 3. Das Kostümbild von Andy Besuch in "Baracke", unter anderem das glitzernde Pailettenkleid mit brauner Pelzapplikation. 4. Der Rücken von Rainald Goetz, den es im Publikumsgespräch zu bestaunen gab, weil der Autor nicht auf dem Podium saß. 5. Die U-Bahnfahrt mit Felicia Zeller (Mülheim ist eben nicht so groß, da trifft man auf dem Weg ins Theater halt auch mal eine Autorin mit einem Eis in der Hand) 6. Felicia Zellers These zur Behördensprache (siehe Publikumsgespräch) 7. Der Raffelbergpark (direkt am Theater an der Ruhr) 8. Der erste Kommentar von nachtkritik.de-Stammleser Konrad Kögler auf unserer Seite. 9. Die Pita, die es in der Stadthalle am ersten Abend gab, in der Pause zwischen Preisverleihung der Sieger 2023 und Eröffnungsgastspiel "Baracke". 10. Die Shishabar, die unser Raum zum Brainstormen war – das letzte Refugium an einem Montagabend in Mülheim (alle anderen von uns angesteuerten Kneipen waren zu).

(Marlene Drexler / Christian Rakow)

Mein unpoetischster Moment

6. Mai 2024. Ich möchte erzählen, wie Kritiker zu ihren Urteilen kommen. In Felicia Zellers Text "Antrag auf größtmögliche Entfernung von Gewalt" gibt es eine Stelle, die ich für sehr besonders halte, vielleicht eine der schönsten Passagen in den diesjährigen Mülheim-Texten. In ihr erfahren wir, was die Figur "Anna" als Aushilfe in einer Kneipe an Wörtern gelernt hat. Anna ist nach Deutschland eingewandert und erklärt: "Was die alkoholischen Getränke betrifft / Schätze ich mein Vokabular mittlerweile auf bis zu 120 Wörter / Dabei trinke ich gar nicht." Und dann biegt sie in einen furiosen Katalog der aufgeschnappten Kneipenwörter ein: "DAS GLAS DIE SCHERBEN DIE HALBE DAS HEFEWEIZEN…" Und so geht es lange weiter.

Zeller homeElement des Bühnenbildes von Franziska Isensee für die Zeller-Uraufführung in Oberhausen © chr

Kataloge dieser Art, in denen ein ganzes Milieu in Schlagworten schraffiert wird, gehören zum Feinsten in der modernen Literatur. James Joyce konnte solche Listen in Perfektion, genau wie Alfred Döblin, Joris-Karl Huysmans und einige andere. Die Worte treten darin mit viel Zwischenraum zueinander, haben mal mehr mal weniger Anziehung, reihen sich manchmal auch nur ob des klanglichen Effekts auf: "PRÖSTERCHEN PROLETENTAG".

Der Katalog ist im Grunde der Moment, in dem eine flächige Poesie ihren höchsten Grad an Verdichtung bei gleichzeitiger maximaler Offenheit des Assoziationsraums gewinnt. In ihm kommt das moderne Erzählen in ähnlicher Weise zu sich wie, sagen wir mal, die Oper beim "Hohen C" oder Michael Jackson beim Moonwalk oder der Heavy Metal, wenn die Sänger ins Falsett abdriften.

Und was passiert in der Zeller-Uraufführung des Theaters Oberhausen? Da hat die Darstellerin der "Anna" gerade erst mit ihren Kneipenworten losgelegt, schon packt die Regie die "Arbeitgeberin" links von ihr drüber, die simultan ihren Rollentext absondert, ja "absondert", und beides sogleich unverständlich macht. So versinkt Poesie im inszenatorischen Störgeräusch. Und es ist der Moment, an dem man als Kritiker sagt: Nee, Leute, so nicht! 

Als Würdigung gibt es hier also noch einmal den ganzen Katalog der "Anna", zum Lautsprechen sehr ans Herz gelegt:

DAS GLAS DIE SCHERBEN DIE HALBE DAS HEFEWEIZEN DIE ZITRONE DER SCHUSS ABSACKER JÄGERMEISTER DAS KÖLSCH ALTBIER PILS PERLENBERGER PROST PRÖSTERCHEN PROLETENTAG DER DIE SCHNAPS DIE SCHNAPSLEICHE AUFWISCHEN PUTZEN DIE THEKE DAS ERBROCHENE DIE KOTZE DER EIMER ROTWEIN WEIßWEIN VIERTELE SCHORLE BAR BARGELD BEDIENUNG FRÄULEIN DAS FRÄULEIN DER ODER DAS TONIC LETZTE RUNDE SCHNITT GIN RUM OBSTLER HAU WEG DAS HERRENGEDECK EXPORT

(Christian Rakow)

Der Sound des Festivals

5. Mai 2024. Mülheim zeigt sich uns zum Start als Festival der Klänge. Beim Betreten der Stadthalle gibt's Jazz und Boogie-Woogie im Foyer. Menschen strömen hinauf in den Kammermusiksaal im ersten Stock, wo die Preisverleihung der Gewinner des letzten Jahres stattfindet: Caren Jeß (Dramatikpreis), Roland Schimmelpfennig (Kinderstückepreis) und Schauspielerin Vidina Popov (Gordana-Kosanović-Preis) werden geehrt. Und zwar ziemlich sonor: Wiebke Puls verwandelt ihre Laudatio auf Caren Jeß und ihr Siegerstück "Die Katze Eleonore" in ein echtes Katzenkonzert. Mit Schnurren und Mauzen und angedeutetem Miauen. Memorabel.

Keyboard1Das Foyer der Mülheimer Stadthalle zur Festivaleröffnung © md

Später auf der Bühne gibt's im Eröffnungsschauspiel dann Goetz'sche Rave-Lyrik, von Regisseurin Claudia Bossard aus den Lautsprechern noch etwas Techno und im Finale Harry Styles. Klangvoll. Und während des Publikumsgesprächs im Nachgang (bei dem Rainald Goetz den Auftritt mied)? Da klangen die Sektgläser beim Publikum. Während auf dem Podium die Wasserflaschen eher still vor sich hinstanden.

(Christian Rakow)

Ein Tag bis zur Anreise

3. Mai 2024. Zum morgigen Start der Mülheimer Theatertage schlagen wir als Tandem auf: Marlene Drexler/Christian Rakow. Rakow hat vier Stunden Theatertreffen-Auftakt mit Ulrich Rasches opernhaftem "Nathan der Weise" in den Knochen (hier der Theatertreffen-Liveblog auf nachtkritik.de). Drexler kommt direkt aus einer 30-Tage-Challenge: Wie fühlt es sich an, jeden Abend ins Theater zu gehen, den ganzen April hindurch: in Thüringen, Sachsen und Sachsen-Anhalt? In große und kleine Häuser? In Bouevardstücke und Avantgarde? Davon erzählt sie im neuen Theaterpodcast #68 bei Susanne Burkardt und Elena Philipp.

Drexler in JenaMarlene Drexler auf ihrer 30-Tage-Theaterchallenge: in Jena © privat

Wer macht diese Website?

1. Mai 2024. Mit sechs Redakteur*innen kommt nachtkritik.de nach Mülheim zu den Theatertagen. Drei sind aus der Berliner nachtkritik.de-Redaktion: Georg Kasch, Christian Rakow und Michael Wolf. Drei sind nachtkritik-Autor*innen in Thüringen (Marlene Drexler), Bayern (Svenja Plannerer) und Berlin (Falk Lörcher). Der Aufbau der Seite, die redaktionellen Absprachen und die Einstimmung auf Mülheim liefen vorab über Zoom-Treffen (aber den hässlichen Zoom-Screenshot wollen wir Ihnen, liebe Leser*innen, nicht zumuten). Daher hier unsere Gesichter in der Collage.

Team Collage2Das Team für Mülheim (von oben links im Uhrzeigersinn): Michael Wolf, Marlene Drexler, Christian Rakow, Georg Kasch, Svenja Plannerer und Falk Lörcher © Thomas Aurin (1,3,4) | privat

 

Kommentare  
Liveblog: Name des Festivals
Ich habe mal eine Frage. Eigentlich eine gute Frage, hoffe ich. Heißt das Festival in Mülheim „Stücke“ oder „Theatertage“?

(Anm. Redaktion: Lieber Martin, das Festival heißt: Mülheimer Theatertage. Beim Festival werden der Mülheimer Dramatikpreis und der Mülheimer KinderStückePreis vergeben. Früher wurde das Festival "Stücke" genannt, "aber spätestens als der Teil 'KinderStücke' hinzukam, wurde das zu eng", schreibt die Pressestelle der Mülheimer Theatertage.)
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