Einstimmig entschieden

Die Jury hat nach 75-minütiger öffentlicher Diskussion den KinderStückePreis an Armela Madreiter vergeben.

KinderStücke-Siegerin Armela Madreiter und mit dem Sieger des Jugendjury-Preises Henner Kallmeyer © Daniela Motzkus

17. Mai 2024. Die ersten zwei Preise sind vergeben. Armela Madreiter wird für südpol.windstill mit dem Mülheimer KinderStückePreis 2024 ausgezeichnet. Der Preis ist mit 15.000 Euro dotiert.

Bis zuletzt war in der öffentlichen Jurydiskussion auch Henner Kallmeyers Stück Troja! Blinde Passagiere im trojanischen Pferd im Rennen. Nach öffentlicher Debatte votierte die Jury soeben dennoch einstimmig für "südpol.windstill". Ihr gehörten die Regisseurin Ebru Tartıcı Borchers, die Kulturjournalistin Anne Fritsch und der Autor Björn Hayer an.

"südpol.windstill" erzählt für Kinder ab neun Jahren die Geschichte von Ida, die in prekären Verhältnissen aufwächst. Mit ihrem imaginären Freund Robert Falcon Scott, dem Entdecker, bereitet sie sich auf künftige Expeditionen vor – und schafft es zugleich, einen differenzierten und dennoch liebevollen Blick auf ihre Mutter zu entwickeln.

Armela Madreiter, Jahrgang 1992, war als freie Dramaturgin, Co-Regisseurin und Autorin in Wien tätig, unter anderem für die Theaterkollektive wohingenau und Hira*. Seit 2018 arbeitet Madreiter vermehrt als Dramaturgin, etwa für die Sparte jung&jede*r im Rahmen der Salzburger Festspiele. Sie schreibt Texte für junges und erwachsenes Publikum.

Zum neunten Mal vergab in diesem Jahr auch eine Jugend-Jury ihren eigenen Preis. Die sieben Schülerinnen im Alter von 12 bis 16 Jahren zeichneten "Troja! Blinde Passagiere im trojanischen Pferd" von Henner Kallmeyer aus. In ihrer Würdigung lobten sie, dass das Stück sie "besonders berührt" habe.

(Mülheimer Theatertage / Michael Wolf)

"Boa, wie geil!"

15. Mai 2024. Zu den schönen Dingen im Kindertheater gehört es, während der Vorstellung den Kindern mit ihren teils so unverblümten Zwischenrufen zuzuhören. Da erlebt man sie mit allen Sinnen: die autopoitische Feedback-Schleife nach Erika-Fischer Lichte, die ansonsten im Theaterwissenschaftsstudium in den Grundlagen gelehrt wird.

Hier daher ein paar Bocken, die ich heute bei der 9 Uhr Vorstellung von Winterkind und Herr Jemineh aufschnappen durfte:

"Der mit lila Haare is gay!"

"Uiiii" oder "Boa, wie geil!" (als die Nebelmaschine zum Einsatz kommt)

"Halt die Fresse!"

"Justin Bieber!"

Und meine Highlights:

"Sind die Schlümpfe?"

"Willst du Sonnenblumenkern?"

Für das Kritikschreiben sind solche Zwischenrufe interessant, denn man spürt im Saal sehr direkt, an welchen Stellen die Kinder unruhig werden und sich langweilen, und welche Szenen sie packen und begeistern.

Vor der zweiten Vorstellung von "Winterkind und Herr Jemineh" gab es noch eine weitere, kleine, Aufführung im Foyer des Theaters an der Ruhr anzusehen. Elf Schüler*innen der "Patenklasse" zeigten ein Stück, das sie gemeinsam mit Theaterpädagogin Mayra Capovilla entwickelt haben.

In Regenmänteln mit spitzen Kapuzen gekleidet, stehen sie in einer Reihe vor dem Publikum. Über Lautsprecher werden Regengeräusche abgespielt. "Wollen wir Pferde reiten?", fragt ein Kind, das aus der Reihe hervortritt. "Langweilig!", rufen die anderen im Chor. Wovon sie träumen? Vom Abenteuerland. Und für die Reise dorthin packen sie ihren Abenteuerkoffer.

Während Shakiras "Waka Waka (This Time for Africa)" (dieser WM Song von 2010, an den sich die jungen Spieler*innen selbst wohl kaum erinnern dürften) vom Band läuft, verteilen sie sich auf der Bühne und beginnen, Spiele wie Hula Hoop und Uno zu spielen. Die Regenmäntel haben sie inzwischen ausgezogen. Sie sind wohl angekommen, im Abenteuerland.

(Falk Lörcher)

Brücke zur Bühne

14. Mai 2024. Ein weiterer Festival-Tag in Mülheim neigt sich dem Ende zu. Die Sonne scheint über der Ruhr, die Pollen fliegen, der Heuschnupfen knallt. Der Tag startete schon sehr früh – um 9 Uhr – mit der ersten Aufführung von südpol.windstill vom Jungen Theater Heidelberg. Ich kann meinem Kollegen Georg Kasch nur zustimmen, der in seiner Kritik von Momenten spricht, "für die man gut gemachtes Kindertheater liebt".

Nach einer längeren Mittagspause habe ich mich am Nachmittag mit Mayra Capovilla, die als Theaterpädagogin für die Mülheimer Theatertage arbeitet, auf einen Kaffee getroffen. Im Schatten des Ringlokschuppens haben wir uns ausgetauscht zu den Stücken, die wir in den vergangenen Tagen gesehen haben und zu denen, die wir in den kommenden Tagen noch sehen werden. Und zu Kulturvermittlung und Theaterpädagogik.

Für jede Kindertheater-Produktion, die nach Mülheim eingeladen ist, gibt es ein umfangreiches Vermittlungsprogramm. Neben kurzen, einführenden Workshops und Publikumsgesprächen hat jede Inszenierung eine "Patenklasse". In einem dreistündigen Workshop arbeitet diese zu den Stoffen, die auf der Bühne verhandelt werden. Mayra Capovilla kommt für diese Vorbereitung in die Schulen, um mit den Schüler*innen Impro-Theater zu spielen oder spielerisch Zugänge zum Stoff zu schaffen – auch zu komplexen Themen. In den Foyers der Theater können Bastelarbeiten der "Patenklassen" betrachtet werden, die sie für das jeweilige Stück eigens angefertigt haben.

KugelnMit Bastelarbeiten bereiten sich die Schulklassen auf die Theaterstücke vor: hier eine Arbeit zu "südpol.windstill" © flo

Das Angebot ist für die Schulen und die Schüler*innen selbst kostenlos und wird im Zeitraum des Festivals gut angenommen. Allerdings ist die Beteiligung von Schulen stark abhängig von engagierten Lehrkräften, wie Capovilla berichtet. Über die letzten Jahre war zu beobachten, wie die Ressourcen an den Schulen selbst knapper wurden. So macht sich auch der Lehrkräftemangel bemerkbar. Mitunter fällt für Schulklassen der Theaterbesuch aus, weil es nicht genug Kapazitäten für die Betreuung der Schüler*innen gibt.

Vermittlung im Kindertheater, das ist mindestens genauso wichtig wie das Theater selbst. Denn wie sonst kann das junge Publikum direkt angesprochen werden? Wie lassen sich Kinder und Jugendliche ins Theater bringen, die sich von selbst niemals dorthin begeben würden? Im Feld der rasant wachsenden, diversen Kulturangebote stellt die Theaterpädagogik eine Einladung dar, eine Brücke zur Bühne.

(Falk Lörcher)

Sofies Schweigen

13. Mai 2024. Gestern eröffnete der Wettbewerb um den Kinderstückepreis so entspannt wie unspektakulär: Vor dem Theater an der Ruhr gab's unter Sonnenschirmen zwischen Luftballons und Festival-Fahnen Saft, Kaffee und reichlich Kuchen für all die Familien, die ihren Sonntagnachmittag mit Kultur verbringen wollten. Keine Rede, keine irgendwo anders reingeschmuggelten festlichen Worte. Stattdessen Spielzeugboxen und Kindergewimmel.

Das Gastspiel "Geschichten vom Aufstehen" erinnerte selbst ein wenig an ein Wimmelbild. Das war offenbar auch die Ausgangsidee des Theater Junge Generation (tjg) Dresden, wie Autor Thomas Freyer im Nachgespräch mit der Jugendpreisjury erzählte, Schülerinnen zwischen 13 und 15, die zwei lange Wochenende dafür geopfert haben, um gemeinsam die eingeladenen Texte zu lesen und zu diskutieren. Und nun teils die Schule verpassen, um Theater zu gucken und ihre Entscheidung zu treffen.

Das Schöne am Wimmelbild-Ergebnis: Die Charaktere und Konstellationen sind vielfältig. Nicht unproblematisch allerdings, dass dabei einzelne Figuren zu kurz kommen. Im Zentrum stehen drei (miteinander über Kinderfreundschaften oder Berufsbekanntschaften verbundene) Familienkonstellationen, die alle ihre Leerstelle haben: weder Tim, der zweite Vater von Rabea und Danny, noch der Urgroßvater von Ben oder Sofie, Frederiks Schwester, die mit einer Behinderung lebt, haben einen Auftritt.
 
EroeffnungKinderstueckeDas Mülheimer Theater an der Ruhr: einer der Spielorte der Kinderstücke © geka
 
Das ist erstmal konsequent, weil es um die Perspektive der Kinder geht, die damit jeweils ein Problem haben. Aber insbesondere im Fall von Sofie bleibt so stehen, dass es zwar eine Figur mit Behinderung gibt, sie aber keine eigene Stimme erhält. Erst in der Alptraumszene, in der die Konflikte aller drei Kinder kulminieren, spricht Sofie – aber durch den Mund von Frederik, der begreift, dass nicht nur er eine "normale" Schwester, sondern sie vielleicht auch einen Bruder will, der sie liebt.
 
Verstärkt wird der Eindruck, dass Sofie hier eine narrative Prothese ist, durch die Inszenierung. Wenn Frederik mit Sofie spricht oder sich in ihre Richtung wendet, dann immer über den linken Rand der Spielfläche hinaus, ins Abseits. Das ist natürlich immer noch besser, als Sofie von einer oder einem nicht-behinderten Schauspieler*in verkörpern zu lassen. Aber so bleibt da eben eine Leerstelle, die auch deshalb so auffällt, weil mit Vater Tim eine der drei Referenzfiguren am Ende doch noch auftaucht – eine Entscheidung, die während der Proben gefällt wurde, wie das Team beim Gespräch mit der Jugendstückejury erzählt.
 
Wäre es also besser, in ähnlichen Kontexten ganz auf eine Figur mit Behinderung zu verzichten und Behinderung damit völlig unsichtbar zu machen? Anders wird ein Schuh draus: Um Figuren mit Behinderung auf der Bühne erzählen zu können, braucht es Raum für Charaktere und ihre Probleme und Herausforderungen jenseits ihrer Behinderung. Und Raum für Schauspieler*innen mit Behinderung gerade auch in Rollen, die nicht als behindert definiert sind. Dann klappt's auch mit der Repräsentation ganz ohne Leerstellen und Cripping up.
 
(Georg Kasch)

 

Aufmerksamkeit, Ruhm, Geld

12. Mai 2024. Und wieder ein Teamwechsel: Gestern ist Marlene Drexler abgereist, heute kommt Falk Lörcher als neuer Redakteur dazu. Er springt gleich mitten hinein in die Eröffnung des Wettbewerbs um den Kinderstückepreis, der heute mit Thomas Freyers "Geschichten vom Aufstehen" beginnt. Die Theatertage zeigen heute und morgen die Uraufführungs-Inszenierung von Jan Gehler, der 2006 mit seiner Werkstattinszenierung von Freyers "Separatisten" zum Regiefestival Körber Studio Junge Regie nach Hamburg eingeladen wurde und seitdem mehrere Stücke des Autors inszeniert hat.

Gerade weil sich die Mülheimer Theatertage über einen vergleichsweise langen Zeitraum erstrecken und es nicht jeden Tag Vorstellungen gibt, vergisst man manchmal, dass es sich um einen Wettbewerb handelt, bei dem es um etwas geht: Aufmerksamkeit, Ruhm, Geld. Wie übrigens auch beim Eurovison Song Contest. Hier wie dort gewinnen nicht immer diejenigen, die es verdient haben. Oft wirken die Entscheidungen der Jurys wie des Publikums rätselhaft. In diesem Jahr aber hatten sie ein gutes Händchen: Mit Nemo und "The Code" hat mein*e Favorit*in gewonnen. Das passiert beim ESC nur alle paar Jahre. Bei den Mülheimer Theatertagen allerdings auch. Mal schauen, wie die Sache in diesem Jahr ausgeht.
 
(Georg Kasch)
Wie in der Oper

11. Mai 2024. Eines der Dinge, die man von Berlin (oder auch anderen Metropolen in Nord, Ost und Süd) schwer begreift, ist die Vernetztheit der Rhein-Ruhr-Region. Dass da zwar Dortmund, Bochum, Düsseldorf auf den Ortseingangsschildern steht, dass sie aber alle mit S- und "U"- und Straßenbahn (was hier halbwegs dasselbe ist) und Bus verknüpft sind. Nach Köln braucht man von Mülheim mit den Regionalbahnen eine gute Stunde, in Dortmund ist man etwas schneller, Essen liegt um die Ecke. 

Was auch bedeutet: Die Kulturlandschaft mit ihren vielen Theatern und Opernhäusern ist riesig! Es gibt kaum einen Abend, an dem nicht irgendwo was Spannendes läuft – was man sich bei einem Festival wie den Mülheimer Theatertagen, an dem nicht jeden Abend eine neue Aufführung läuft, zunutze machen kann. Gestern etwa war ich in der Oper Dortmund: "La montagne noire". Noch nie gehört? Das könnte daran liegen, dass die Komponistin Augusta Holmès zwar Ende des 19. Jahrhunderts ziemlich berühmt war, danach aber von der männlich dominierten Musikwissenschaft und Aufführungstradition schnell vergessen wurde.

OperDortmund gekaDas "Montagne noire"-Ensemble der Oper Dortmund beim Schlussapplaus © geka

Jetzt hat Dortmund das Werk, das 1895 in Paris für Furore sorgte, wiederausgegraben – es ist überhaupt die erste Nachinszenierung seit der Uraufführung. Wie bei vielen weniger bekannten Zeitgenoss:innen hört man den Einfluss von Verdi ("Don Carlos") und Wagner ("Tannhäuser") deutlich, leider auch den von Holmès Lehrer César Franck – immer, wenn man denkt, da geht jetzt nichts mehr, legt Holmès noch eine Pathos- und Klangschicht drauf, ohne dass das die Wirkung oder Tiefenstruktur der Musik verändern würde. Erzählt wird eine glühende Liebesgeschichte um die Femme fatale Yamina (ein Hauch von Bizets "Carmen" umweht sie).

Was diesen Historienschinken interessant macht, sind – neben ein paar wirklich stark komponierten Szenen im zweiten Akt – zwei Aspekte der Handlung (Holmès schrieb auch das Libretto). Yamina wird von den Montenegrinern gefangen, von Mirkos Mutter als Sklavin gehalten. Auf Bullshit-Jobs aber hat sie keine Lust. Den Frauen hält sie vor, sich von den Männern zu Dienstmägden erniedrigen zu lassen. Und die Frauen? Revoltieren für einen kurzen Moment (zumindest in der Dortmunder Inszenierung von Emily Hehl).

Am Ende überleben übrigens die Frauen, ihre männlichen Verehrer (und Verfolger) sterben im Zweikampf, und werden dann vom Volk fälschlicherweise als Helden, die im Kampf fielen, verklärt. Das wirkt aus heutiger Sicht wie eine Demontage des Heldentums per se. Was man ja auch in vielen zeitgenössischen Dramentexten finden kann.

(Georg Kasch)

Hauptstadt der Freundlichkeit

10. Mai 2024. Neues Team, neues Glück: Seit gestern ist – zusammen mit Marlene Drexler – mit Georg Kasch ein neuer Senior Editor am Start.

DrexlerKasch KaschMarlene Drexler und Georg Kasch vor dem Theater an der Ruhr © geka

Mein erster Eindruck von Mülheim: klein, tot, unfreundlich (Achtung: Urteile über eine Stadt nie an einem Feiertag). Mein zweiter: grün, weit, ein Ort der offenen Portale und Türen. Denn nach getaner Nachtschicht haben wir heute weitere Ecken erkundet: Schloss Broich, den Ringlokschuppen (wo zwei Kinderstücke und das Jugendstück laufen werden), die Wege an der Ruhr entlang. Fazit bei Sonnenschein: schön hier!

ParkPortalIm Park von Schloss Broich © geka

Und dann natürlich die Leute. Freundliche Kassiererin in der Drogerie, freundlicher Barista im Café, freundliche Bäckerei-Verkäuferin, freundliche Kellnerin in der Mittagspause. Und, fast vergessen: freundliche Frau im Nippes-Laden. Gut, weder in Berlin noch in Thüringen sind wir jetzt wahnsinnig verwöhnt mit Freundlichkeit. Aber diese warme Dusche an Liebenswürdigkeit und echter Zuwendung, die man ja nicht nur hier, sondern überall im Ruhgebiet erfährt, ist schon speziell. Und herrlich entspannend.

(Georg Kasch)

Strenger als die Nachtkritik

9. Mai 2024. Uns hat über Umwege die Frage erreicht, warum das Festivalportal von nachtkritik.de gelegentlich strenger ist als die ursprüngliche Nachtkritik am Uraufführungsort: "Erst sagt die Nachtkritik so, und dann plötzlich so?"

Das ist zum einen recht leicht zu beantworten: "Die Nachtkritik" als solche gibt es natürlich nicht, so quasi als zentralistisches Organ mit dem Ruch der Unanfechtbarkeit. Nein. nachtkritik.de ist ein Autor*innenfeuilleton, und da haben alle Kritiker*innen ihren eigenen Kopf und ihren eigenen Geschmack. Wichtig ist nur, wie immer bei Kritik, dass die Gründe für das je subjektive Geschmacksurteil relativ transparent an der Rezension abzulesen sind.

Das ist die erste Antwort. Aber es gibt natürlich noch eine etwas verzweigtere. Kritik ist ganz genau wie das Theater selbst vom Kontext abhängig. Was an einem Spielort das Richtige und durch und durch Gute ist – die passende Stoffwahl, das perfekte Gespür fürs eigene lokale Publikum – kann andernorts kolossal absaufen. Grelles Beispiel: Man stelle sich ein touristisches Spektakel wie "Störtebecker" aus Ralswieck/Rügen am Bochumer Schauspielhaus vor. Uiuiui. Theater ist nicht überall das gleiche.

Stadthalle MH mdSpielort, Ballungsort von Stücken und Ort der Ausbildung von Maßstäben: die Mülheimer Stadthalle © md

Die Mülheimer Theatertage sind ihrem Selbstverständnis nach und tatsächlich auch in der Wahrnehmung der Theaterwelt die Auswahl des "Besten der Gegenwartsdramatik". Hier bildet sich das ab, was das Verständnis von zeitgenössischem Schreiben und von zeitgenössischer Bühnenästhetik prägt. Ein abstrakteres Diskurs-Verständnis sozusagen, auf das sich die einzelnen Individuen (die Kritiker*innen wie auch die Theaterschaffenden) beziehen. Hier entstehen die "Referenzpunkte", von denen man idealerweise in Jahren noch sagen kann: "Felicia Zeller mit 'Kaspar Häuser Meer' oder Ewald Palmetshofer mit 'hamlet ist tot. keine schwerkraft' – hast Du das damals in Mülheim gesehen? Da wurde doch eine Tür aufgestoßen!"

In der engen Zusammenschau des Bemerkenswerten stellt sich die Optik schärfer: nicht nur auf das, was in der Saison herausragt (diese Auszeichnung ist natürlich mit der Einladung nach Mülheim schon vorgenommen), sondern auf das, was über den Tag hinaus bleibt und exemplarisch wird. Mülheim ist idealerweise der Ort, an dem sich die nachhaltigste Auseinandersetzung um Ästhetiken abspielt (nicht nur um gute Inhalte, gute Stoffe). Auf dem Festival entsteht das ästhetische Wissen, von dem auch wir Kritiker*innen später in unserer täglichen Arbeit zehren, ein Wissen um die Theaterkunst, das uns erlaubt, aus dem jeweiligen lokalen Publikum herauszutreten und zu sagen: "So und so habt Ihr es unmittelbar erlebt, und das sei unbenommen! Aber ich sage Euch, welche Rolle unser Erlebnis hier und jetzt draußen in der Welt des Theaters spielt und wie es der Kunstform als solcher etwas hinzufügt oder eben nicht." Dieses kritische Urteil ist, wie gesagt, abstrakter und ja, auch strenger. Aber diese Strenge ist man der Kunst schuldig.

(Christian Rakow)

Teamwechsel

8. Mai 2024. Das Team wechselt. Während Marlene am Interview mit Lina Beckmann arbeitet, rollt Christian im ICE nach Berlin, wo am Abend "Extra Life" von Gisèle Vienne beim Theatertreffen läuft (de facto findet dieser Abend in Potsdam statt, Berlin ist also nur Umsteigebahnhof). Georg, der den Berliner/Potsdamer Abend im Theatertreffen-Shorty besprochen hat, kommt am Donnerstag nach Mülheim. Also großes Umrangieren.

Screenshot Instagram Abreise

Unsere 10 ersten Highlights

7. Mai 2024. Die Mülheimer Theatertage haben sich warmgelaufen. Wir – das Einstiegsduo Christian und Marlene – haben unseren ersten theaterfreien Abend genutzt, um unsere zehn besten Mülheim-Momente zu sammeln. Transparenzhinweis: Zwei Nächte in Folge mit wenig Schlaf haben Anlass zu einem Instagram-Filter gegeben.

1. Der erste Monolog von Mareike Beykirch in Rainald Goetz' "Baracke" 2. Die Disco-Moves von Mareike Beykirch (ebenfalls am Start) 3. Das Kostümbild von Andy Besuch in "Baracke", unter anderem das glitzernde Pailettenkleid mit brauner Pelzapplikation. 4. Der Rücken von Rainald Goetz, den es im Publikumsgespräch zu bestaunen gab, weil der Autor nicht auf dem Podium saß. 5. Die U-Bahnfahrt mit Felicia Zeller (Mülheim ist eben nicht so groß, da trifft man auf dem Weg ins Theater halt auch mal eine Autorin mit einem Eis in der Hand) 6. Felicia Zellers These zur Behördensprache (siehe Publikumsgespräch) 7. Der Raffelbergpark (direkt am Theater an der Ruhr) 8. Der erste Kommentar von nachtkritik.de-Stammleser Konrad Kögler auf unserer Seite. 9. Die Pita, die es in der Stadthalle am ersten Abend gab, in der Pause zwischen Preisverleihung der Sieger 2023 und Eröffnungsgastspiel "Baracke". 10. Die Shishabar, die unser Raum zum Brainstormen war – das letzte Refugium an einem Montagabend in Mülheim (alle anderen von uns angesteuerten Kneipen waren zu).

(Marlene Drexler / Christian Rakow)

Mein unpoetischster Moment

6. Mai 2024. Ich möchte erzählen, wie Kritiker zu ihren Urteilen kommen. In Felicia Zellers Text "Antrag auf größtmögliche Entfernung von Gewalt" gibt es eine Stelle, die ich für sehr besonders halte, vielleicht eine der schönsten Passagen in den diesjährigen Mülheim-Texten. In ihr erfahren wir, was die Figur "Anna" als Aushilfe in einer Kneipe an Wörtern gelernt hat. Anna ist nach Deutschland eingewandert und erklärt: "Was die alkoholischen Getränke betrifft / Schätze ich mein Vokabular mittlerweile auf bis zu 120 Wörter / Dabei trinke ich gar nicht." Und dann biegt sie in einen furiosen Katalog der aufgeschnappten Kneipenwörter ein: "DAS GLAS DIE SCHERBEN DIE HALBE DAS HEFEWEIZEN…" Und so geht es lange weiter.

Zeller homeElement des Bühnenbildes von Franziska Isensee für die Zeller-Uraufführung in Oberhausen © chr

Kataloge dieser Art, in denen ein ganzes Milieu in Schlagworten schraffiert wird, gehören zum Feinsten in der modernen Literatur. James Joyce konnte solche Listen in Perfektion, genau wie Alfred Döblin, Joris-Karl Huysmans und einige andere. Die Worte treten darin mit viel Zwischenraum zueinander, haben mal mehr mal weniger Anziehung, reihen sich manchmal auch nur ob des klanglichen Effekts auf: "PRÖSTERCHEN PROLETENTAG".

Der Katalog ist im Grunde der Moment, in dem eine flächige Poesie ihren höchsten Grad an Verdichtung bei gleichzeitiger maximaler Offenheit des Assoziationsraums gewinnt. In ihm kommt das moderne Erzählen in ähnlicher Weise zu sich wie, sagen wir mal, die Oper beim "Hohen C" oder Michael Jackson beim Moonwalk oder der Heavy Metal, wenn die Sänger ins Falsett abdriften.

Und was passiert in der Zeller-Uraufführung des Theaters Oberhausen? Da hat die Darstellerin der "Anna" gerade erst mit ihren Kneipenworten losgelegt, schon packt die Regie die "Arbeitgeberin" links von ihr drüber, die simultan ihren Rollentext absondert, ja "absondert", und beides sogleich unverständlich macht. So versinkt Poesie im inszenatorischen Störgeräusch. Und es ist der Moment, an dem man als Kritiker sagt: Nee, Leute, so nicht! 

Als Würdigung gibt es hier also noch einmal den ganzen Katalog der "Anna", zum Lautsprechen sehr ans Herz gelegt:

DAS GLAS DIE SCHERBEN DIE HALBE DAS HEFEWEIZEN DIE ZITRONE DER SCHUSS ABSACKER JÄGERMEISTER DAS KÖLSCH ALTBIER PILS PERLENBERGER PROST PRÖSTERCHEN PROLETENTAG DER DIE SCHNAPS DIE SCHNAPSLEICHE AUFWISCHEN PUTZEN DIE THEKE DAS ERBROCHENE DIE KOTZE DER EIMER ROTWEIN WEIßWEIN VIERTELE SCHORLE BAR BARGELD BEDIENUNG FRÄULEIN DAS FRÄULEIN DER ODER DAS TONIC LETZTE RUNDE SCHNITT GIN RUM OBSTLER HAU WEG DAS HERRENGEDECK EXPORT

(Christian Rakow)

Der Sound des Festivals

5. Mai 2024. Mülheim zeigt sich uns zum Start als Festival der Klänge. Beim Betreten der Stadthalle gibt's Jazz und Boogie-Woogie im Foyer. Menschen strömen hinauf in den Kammermusiksaal im ersten Stock, wo die Preisverleihung der Gewinner des letzten Jahres stattfindet: Caren Jeß (Dramatikpreis), Roland Schimmelpfennig (Kinderstückepreis) und Schauspielerin Vidina Popov (Gordana-Kosanović-Preis) werden geehrt. Und zwar ziemlich sonor: Wiebke Puls verwandelt ihre Laudatio auf Caren Jeß und ihr Siegerstück "Die Katze Eleonore" in ein echtes Katzenkonzert. Mit Schnurren und Mauzen und angedeutetem Miauen. Memorabel.

Keyboard1Das Foyer der Mülheimer Stadthalle zur Festivaleröffnung © md

Später auf der Bühne gibt's im Eröffnungsschauspiel dann Goetz'sche Rave-Lyrik, von Regisseurin Claudia Bossard aus den Lautsprechern noch etwas Techno und im Finale Harry Styles. Klangvoll. Und während des Publikumsgesprächs im Nachgang (bei dem Rainald Goetz den Auftritt mied)? Da klangen die Sektgläser beim Publikum. Während auf dem Podium die Wasserflaschen eher still vor sich hinstanden.

(Christian Rakow)

Ein Tag bis zur Anreise

3. Mai 2024. Zum morgigen Start der Mülheimer Theatertage schlagen wir als Tandem auf: Marlene Drexler/Christian Rakow. Rakow hat vier Stunden Theatertreffen-Auftakt mit Ulrich Rasches opernhaftem "Nathan der Weise" in den Knochen (hier der Theatertreffen-Liveblog auf nachtkritik.de). Drexler kommt direkt aus einer 30-Tage-Challenge: Wie fühlt es sich an, jeden Abend ins Theater zu gehen, den ganzen April hindurch: in Thüringen, Sachsen und Sachsen-Anhalt? In große und kleine Häuser? In Bouevardstücke und Avantgarde? Davon erzählt sie im neuen Theaterpodcast #68 bei Susanne Burkardt und Elena Philipp.

Drexler in JenaMarlene Drexler auf ihrer 30-Tage-Theaterchallenge: in Jena © privat

Wer macht diese Website?

1. Mai 2024. Mit sechs Redakteur*innen kommt nachtkritik.de nach Mülheim zu den Theatertagen. Drei sind aus der Berliner nachtkritik.de-Redaktion: Georg Kasch, Christian Rakow und Michael Wolf. Drei sind nachtkritik-Autor*innen in Thüringen (Marlene Drexler), Bayern (Svenja Plannerer) und Berlin (Falk Lörcher). Der Aufbau der Seite, die redaktionellen Absprachen und die Einstimmung auf Mülheim liefen vorab über Zoom-Treffen (aber den hässlichen Zoom-Screenshot wollen wir Ihnen, liebe Leser*innen, nicht zumuten). Daher hier unsere Gesichter in der Collage.

Team Collage2Das Team für Mülheim (von oben links im Uhrzeigersinn): Michael Wolf, Marlene Drexler, Christian Rakow, Georg Kasch, Svenja Plannerer und Falk Lörcher © Thomas Aurin (1,3,4) | privat

 

Kommentare  
Liveblog: Name des Festivals
Ich habe mal eine Frage. Eigentlich eine gute Frage, hoffe ich. Heißt das Festival in Mülheim „Stücke“ oder „Theatertage“?

(Anm. Redaktion: Lieber Martin, das Festival heißt: Mülheimer Theatertage. Beim Festival werden der Mülheimer Dramatikpreis und der Mülheimer KinderStückePreis vergeben. Früher wurde das Festival "Stücke" genannt, "aber spätestens als der Teil 'KinderStücke' hinzukam, wurde das zu eng", schreibt die Pressestelle der Mülheimer Theatertage.)
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