The Silence – Falk Richter kämpft mit den Dämonen seiner Familiengeschichte
Keine Aufarbeitung unter dieser Nummer
Dimitrij Schaad spielt Falk Richter und stellt sich anstelle des Autors dessen Familiengeschichte. Eine Solo-Performance von großer Sogkraft – wenn Schaad nur nicht ständig telefonieren müsste!
Von Svenja Plannerer
19. Mai 2024. Falk Richters Mutter spricht sehr klar, wählt ihre Worte genau. Sie sitzt mit ihrem Sohn an einem Tisch aus dunklem Holz, im Hintergrund ist ein gutbürgerliches Wohnzimmer zu sehen. Ein Regal mit Büchern. Ein Ledersofa. Etwas altbacken vielleicht, aber gepflegt. Aufgeräumt. Wie sie selbst auch. Wie ihre Vergangenheit: die Flucht aus Westpreußen; die Rückkehr des an Leib und Seele versehrten Vaters aus der Kriegsgefangenschaft; die langen Jahre, in denen Falk Richters Vater sie und das gemeinsame Kind in einer Wohnung außerhalb der Stadt versteckte. Alle diese Erinnerungen sind gut verstaut, so wie es sich gehört. Für sie lohnt es sich nicht, am Gestern festzuhalten. Denn das war nun mal, wie es war. Zurückblicken bringt nur Schmerz, womöglich sogar mehr, als auszuhalten wäre.
Falk Richter selbst aber kann und will die Vergangenheit nicht ruhen lassen. Er trägt nicht nur seine eigene, sondern auch die seiner Mutter und seines Vaters in sich, die wiederum die Vergangenheit ihrer eigenen Eltern tragen. Transgenerationales Trauma.
Direkt im Anschluss an die Vorstellungen im Rahmen des Berliner Theatertreffens verlässt Richters Produktion The Silence nun erstmals die Hauptstadt. “Dimi – Mülheim, Mülheim – Dimi", so begrüßt Solo-Darsteller Dimitrij Schaad die Zuschauer*innen, zunächst noch als er selbst. Dann kündigt er an, er wolle mal was probieren – und die Verwandlung in Falk Richter, autofiktionaler Hauptcharakter des Stücks, beginnt.
Hinab in die Erinnerungen
In einem weißen Halbrund berichtet, mäandert und assoziiert Schaad, einen kargen Baum im Rücken, vor sich labyrinthisch angeordnete Mauerfragmente, zwischen denen ein Haufen zusammengeknüllter Papierblätter liegt. Es könnte ein Ausschnitt aus einer verklärten Kindheits-Idylle sein, oder die Fantasie einer solchen. Die Fantasie einer Welt, in der endlich Tacheles geredet wird. Schluss mit den Ausflüchten! Er legt die Fakten auf den Tisch: Ich wurde als Kind in den Schrank gesperrt, wenn ich gestört habe. Vater hat mich verprügelt, als er erfahren hat, dass ich Männer liebe. Ihr habt meine Tagebücher gelesen. Ihr habt mich nicht geliebt. Ich spüre die Last von Geschichten in mir, die ich nicht schultern müssen sollte. Ich fühle Gefühle, die nicht meine eigenen sind, und ich will, dass das endlich aufhört. Ich will, dass du das weißt, und ich will, dass du das anerkennst.
Einige Kommunikationsversuche sind in Video-Einspielern zu sehen, aufgenommen im Wohnzimmer des Hauses der Mutter in Buchholz. Sie wehrt so viele der Vorwürfe ab, wie sie kann, will das nicht gesagt, dies nicht getan haben. Konfrontiert mit ihrer Reaktion auf das Coming Out ihres Sohnes als schwuler Mann streitet sie heftig ab, ihm die Nummer eines Psychiaters gegeben zu haben, damit der ihn wieder "geradebiegt". Auch sonst tendiert sie zur Erinnerungslücke oder zum Euphemismus. Ihr Vater habe ihre Mutter nicht geschlagen, er wurde "handgreiflich". Ob es sich gelohnt habe, dass sie jahrelang auf Richters Vater gewartet hat, weil er noch verheiratet war, als sie ihr erstes gemeinsames Kind zur Welt brachte? Könne sie doch jetzt nicht mehr sagen.
Dimitrij Schaad bewegt sich in Richters Stück wie ein Dirigent, der in sich zugleich das ganze Orchester trägt. Zu Beginn holt er das Publikum mit charmanten Witzen ab – sein Vergleich der Schaubühne mit dem FC Bayern München etwa erntet hier im Ruhrgebiet lauten, aber amüsierten Unmut aus den Reihen der Zuschauer*innen. Mal spielt er locker-flockig mit einer Hand in der Hosentasche, mal gestikuliert er wild und unterstreicht jedes "nicht" und "nie" mit einer abrupten Handbewegung. Schaad entwickelt eine große Sogkraft; ob frustriert von der Blockade im Kopf, die ihm die Worte verweigert und ihn weiter zum Schweigen verdammen will, oder erschöpft mit hängenden Schultern, weil es mehrerer Anläufe bedarf, um von einem homophoben Angriff zu erzählen. Eine Leistung, die vom Publikum später mit Standing Ovations gewürdigt wird.
Das Telefon steht nicht still
Gegen Ende lässt Richter sein Alter Ego noch mit drei Personen telefonieren. Erstens mit seinem Partner, mit dem er fürchtet, in alte Muster zu verfallen, die ihm seine Eltern vorgelebt haben. Zweitens mit einem Jugendfreund, mit dem er gerne die frühen ungelenken Erfahrungen von schwulem Sex mit seinem heutigen Wissen überschreiben würde. Drittens mit seiner Therapeutin, die ihm rät, daran zu denken, wie schwer seine Mutter es als Nachkriegskind hatte. Interessante Gespräche, die aber holpern und dem Ende an Durchschlagskraft nehmen. Eines hätte es wohl auch getan.
Richters Mutter erhält das letzte Wort. Sie habe es doch nicht anders gekannt. Für sie sei das normal gewesen. Das Schweigen. Die Stille, the silence. Einfach weitermachen, damit alles normal bleiben kann, bloß nicht an all die Wunden denken, die unter der Oberfläche weiter bluten.
von Falk Richter
Regie und Text: Falk Richter, Bühne und Kostüme: Katrin Hoffmann, Musik: Daniel Freitag, Video: Lion Bischof, Dramaturgie: Nils Haarmann / Jens Hillje, Licht: Carsten Sander.
Mit: Dimitrij Schaad, im Video: Falk Richter und Doris Waltraud Richter.
Premiere am 19. November 2023 an der Schaubühne Berlin
Dauer: 1 Stunde 50 Minuten, keine Pause
www.schaubuehne.de
Wie kommt es denn, dass dasselbe Stück nunmehr die dritte Besprechung in einem halben Jahr (Premiere, Theatertreffen, Mülheim) erfährt?
Sind das finanziell einträgliche Kooperationen mit den Festivals oder ist das Interesse der (daheimgebliebenen) Leser*innen an „Liveberichterstattung“ derart groß?
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Lieber Taschenrechner,
die Arbeit ist in drei unterschiedlichen Kontexten besprochen worden. Die Premiere wurde auf www.nachtkritik.de mit einer üblichen Kritik bedacht. Zum Theatertreffen-Gastspiel ist dann, wie bei alle anderen zum Theatertreffen eingeladenen Inszenierungen, ebenfalls auf www.nachtkritik.de eine gesonderten Kurzkritik ("Shorty") erschienen.
Diese separate Seite hier entstand im Auftrag der Mülheimer Theatertage. Das Unternehmen nachtkritik.de wurde also vom Festival mit der Berichterstattung beauftragt. Zu dieser gehören natürlich auch Besprechungen der Gastspiele.
Dass von Nachtkritikern drei Texte zu Vorstellungen von "The Silence" verfasst wurden, ist also 1. dem Umstand geschuldet, dass die Arbeit zu den beiden Festivals eingeladen wurde. Und 2. dass es in diesem Jahr die Sonderseite nachtkritik-stuecke.de gibt.
Herzliche Grüße
miwo