Nora oder wie man das Herrenhaus kompostiert – Sivan Ben Yishais Siegerstück des Mülheimer Dramatikpreises 2024
Noras never ending Tour
Sivan Ben Yishai hat mit ihrer "Nora"-Dekonstruktion (frei nach Henrik Ibsen) den Mülheimer Dramatikpreis 2024 gewonnen. Auch in ihrem Stück gibt es Sieger, aber es sind keine Menschen.
Von Michael Wolf
26. Mai 2024. Vor ein paar Jahren kamen Diskussionen unweigerlich an den Punkt, an dem jemand die folgenden zwei Wörter sagte: "Wer spricht?" Häufig endete die Debatte damit auch schon, war hier doch weniger eine Frage aufgeworfen denn ein Anspruch formuliert. Ab diesem Punkt war es nicht weiter opportun, sich über Inhalte auszutauschen, galt es stattdessen zu überprüfen, wer hier qua seiner Privilegien ohnehin einmal die Klappe zu halten habe. "Wer spricht?" war die ultimative Faustformel für Spielverderber.
Die Belegschaft protestiert
Auch Sivan Ben Yishai stellt mit ihrem Stück "Nora oder wie man das Herrenhaus kompostiert" diese Frage, macht sie aber zugleich auf eine ungewöhnliche Weise fruchtbar. Erstmals lässt sie das Personal zu Wort kommen, das seit der Uraufführung von Henrik Ibsens Drama "Nora oder ein Puppenheim" vor 140 Jahren stumm und diensteifrig den Haushalt geschmissen hat. Mehrere Köche und Therapeuten, ein Paketbote und das Kindermädchen Anne-Marie kommen hier endlich einmal zu Wort. In einer Szene von Marie Bues' Hannoveraner Uraufführung überbieten sie einander in einem Wettstreit um die Anzahl der Sätze, die der Autor ihnen zugewiesen hat. Während Anne-Marie tatsächlich "eine ganze halbe Szene" am Stück auf der Bühne steht, kommt der Paketbote lediglich auf vier Silben: "Fünf-zig Ö-re".
Ben Yishai genügt Noras Emanzipation nicht mehr. Sie stellt an Ibsens Klassiker die Klassenfrage, wendet die Maßgaben eines intersektionalen Feminismus auf ihn an und verschiebt den Fokus auf den Teil des dramatischen Personals, der deutlich stärker auf Befreiung angewiesen wäre als die ohnehin ziemlich privilegierte Bürgertochter Nora. Bald stehen sich zwei Fraktionen gegenüber: Auf der einen Seite eine Belegschaft, die aufbegehrt, verbesserte Arbeitsbedingungen fordert und schließlich sogar das Herrenhaus auf der Drehbühne besetzt. Und auf der anderen Seite das Ehepaar Helmer, das sich zwar längst entzweit hat, aber aus wirtschaftlichen Gründen weiterhin zusammenbleibt.
In Ben Yishais Stücks ist Nora nämlich nicht nur eine Figur, sondern auch die Chefin der Kompagnie, die das Stück seit 140 Jahren auf Gastspielreise an diversen Bühnen zeigt. Diese Überlagerung der Ebenen geht zwar mitunter zu Lasten der Logik, erlaubt es Birte Leest aber gleich zweimal die fiese Chefin heraushängen zu lassen: als Ibsens-Figur und als Theaterproduzentin. Wie die böse Version von Disneys Schneewittchen sieht sie aus, wie sie mit ihrer schwarzen Perücke von den obersten Treppenstufen des Herrenhauses auf die Belegschaft hinabblickt. Als der Paketbote es wagt, sich über seinen Vertrag zu beschweren, ruft sie die Polizei und behauptet, er hätte sie körperlich bedroht.
Auch Cino Djavid macht sich gut als böser Hausherr, wenn er in der Rolle des Helmer gegen "diese ganze postmoderne Theaterpädagoginnen-Scheiße" wütet und sich die Tage zurückwünscht, in denen man sich einfach "ein nettes Stück angesehen hat über einen netten Mann mit einer netten Geschichte".
Sieg der Maden und Bakterien
Diese Zeiten sind in der Tat vorbei, denn Ben Yishai hat anderes vor. Nachdem die marginalisierten Figuren hinlänglich auf ihre prekäre Lage hingewiesen haben, steht das gesamte "Herrenhaus" selbst zur Disposition. Die Dramatikerin meint damit den Kanon, der bestimmte Stoffe und Geschichten konserviert und andere damit verunmöglicht. Wie könnte man diesen Prozess stoppen, wie ihn verändern? Im letzten Drittel des Stücks geht es reichlich lange um diese Frage. Mal chorisch, mal monologisch, fast immer aber recht statisch beschwören die Spielerinnen und Spieler das Ende des Herrenhauses, das im Bühnenbild eins zu eins dadurch verdeutlicht wird, dass Techniker und Technikerinnen die Hauskonstruktion (von Katja Haß) endlich teilweise abbauen und als Skelett zurücklassen. So schaffen sie auch mehr Platz für Florence Adjidome, die zum Abschluss auf dem Grab des verrottenden Klassikers tanzt, auf dass etwas Neues aus der Erde erwachse. In seinen abschließenden Texten setzt das Ensemble seine Hoffnung in Maden und Bakterien.
Ja, richtig verstanden. Die Autorin meint die Sache mit dem Kompostieren ernst. Sie hat eine Schwäche für Metaphern, die sich auf halber Strecke zwischen Biologie und Recycling treffen. Ihr poetologisches Programm ist ersichtlich vom Posthumanismus inspiriert, jener gerade schwer angesagten Denkrichtung, die nach neuen Verwandtschaften zwischen Menschen und anderen Lebensformen sucht und bei der man sich oft nicht sicher ist, ob man sie eher der Philosophie oder der Esoterik zuordnen sollte. Eine Frage, die auch Sivan Ben Yishai letztlich nicht befriedigend beantwortet.
von Sivan Ben Yishai
Deutsch von Gerhild Steinbuch
Regie: Marie Bues, Bühne: Katja Haß, Kostüme: Sophie Klenk-Wulff, Musik: Christine Hasler, Video: Mirko Borscht, Bewegung: Bahar Meric, Licht: Hendrik Möschler, Dramaturgie: Nora Khuon.
Mit: Florence Adjidome, Cino Djavid, Nellie Fischer-Benson, Tabitha Frehner, Torben Kessler, Irene Kugler, Birte Leest, Sebastian Nakajew.
Premiere am 13. Januar 2024 am Schauspiel Hannover
Dauer: 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause
www.staatstheater-hannover.de