Schauspiel im Kindertheater – Wie erwachsene Schauspieler*innen kindliche Figuren darstellen
Verfremde dich!
Regelmäßig kommen erwachsene Schauspieler*innen in die Verlegenheit, kindliche Figuren zu spielen. Kann das gutgehen? Ja, denn im Kindertheater haben sie für solche Fälle einen Superhelden: Bert Brecht!
Von Falk Lörcher
20. Mai 2024. Kindertheater kann Spaß machen – aber auch nervig sein. Sein Gelingen hängt wesentlich davon ab, wie eine Inszenierung den spezifischen Widerspruch adressiert, dass hier Erwachsene Theater für Kinder machen. Schließlich sind es nicht die Kinder selbst, die Texte schreiben, inszenieren oder Entscheidungen zu Bühne oder Kostüm treffen. Sie sind die Zielgruppe. Und deren Lebensrealität, ihr Wahrnehmungsvermögen und ihre Bedürfnisse unterscheiden sich signifikant von der Disposition der erwachsenen Theaterschaffenden.
Am stärksten zeichnet sich dieser Prozess der Entfremdung in der Figur ab. Die Figur wird, dramentheoretisch gesprochen, konstruiert aus der individuellen Wahrnehmung der Einheit von Schauspieler*in und Rolle, von physischem Körper auf der Bühne und fiktiver Person (dramatis persona) im Text. Der britische Regisseur und Schauspieler Edward Gordon Craig hat in Zuspitzung der aristotelischen Dramentheorie das Ideal des Schauspielers als "Übermarionette" konzipiert: Er sieht in der totalen Auflösung der Eigenschaften des Darsteller*innenkörpers eine notwendige Bedingung für die künstlerische Freiheit des Bühnenspiels. Bei ihm geht es also um die totale Unterordnung der Schauspieler*in unter die Rolle.
Am entgegengesetzten Pol der Schauspielauffassung stehen Bertolt Brecht und seine Praxis der Verfremdung, die auf einer kritischen Distanz zwischen Schauspieler*in und Rolle aufbaut. Die Schauspieler*in soll bei Brecht nicht in ihrer Rolle aufgehen, sondern sie lediglich zeigen und sie somit für das Publikum identifizierbar machen. In anderen Worten: Nach Brecht sollte ein Schauspieler nicht zu Hamlet werden – er sollte Hamlet zeigen. Das ist ein Unterschied.
Was bedeutet das also für die Praxis des Kindertheaters? Bei den dramatis personae im Kindertheater handelt es sich oft selbst um Kinder. In der Besetzung mit erwachsenen Schauspieler*innen liegt mithin ein semiotischer Konflikt vor: Wir sehen etwas, das wir nicht sehen sollen. Aufgrund ihres leiblichen Körpers ist die Schauspieler*in nicht direkt als Kind erkennbar, auch Sprache und Gestus unterscheiden sich zwischen Kindern und Erwachsenen markant. Wie also kann Kindlichkeit durch erwachsene Schauspieler*innen auf die Bühne gebracht werden? Um es vorweg zu nehmen – Brecht hat hier ziemlich gute Karten.
Jan Gehler schickt (mit Hilfe seiner Kostümbildnerin Grit Dora von Zeschau) in Thomas Freyers Geschichten vom Aufstehen abstrakte Playmobil-Figuren auf die Bühne. Durch diese Herangehensweise geht die Regie geschickt mit dem genannten Problem um, denn die Schauspieler*innen erscheinen auf der Bühne nicht selbst als Kinder, sondern durch einen quasi Brecht'schen Schleier der Verfremdung hindurch als "Figuren, die Kinder darstellen", als Kunstfiguren.
Einerseits greift Gehler damit auf Angebote in Freyers Text zurück, in dem die Personen des Stückes (die Hauptfiguren sind Kitakinder und Grundschüler) mithilfe von Spielsachen ihren konkreten Alltag transzendieren und in Fantasien auflösen. Andererseits geht der Realismus von Freyers Text ein Stück weit verloren, dessen Hauptschauplätze – ein gewöhnlicher Kinderspielplatz, Wohnungen, ein Altersheim – an sich ein sehr konkretes Nachbarschaftsbild entwerfen, mitsamt den Alltagsproblemen, die Kinder in so einer Nachbarschaft zu bewältigen haben. All das verblasst in der Playmobilwelt.
Die Rolle auf Abstand halten
Eine subtilere Form der Abstraktion findet Regisseurin Yvonne Kespohl für Armela Madreiters Stück südpol.windstill. Protagonistin Ida (Hannah Hupfauer) hat eine depressive und alkoholkranke Mutter, deren verschiedene Zustände sie mithilfe eines imaginären Freundes erforscht: des Polarforschers Robert Falcon Scott. Wenn Patricia Schäfer als Scott auftritt, dann setzt unmittelbar ein Moment der Verfremdung ein. Denn dieser ausgedachte Scott besitzt ja überhaupt keinen physischen Körper, wir müssen ihn uns komplett als Kopfgeburt vorstellen. Hupfauer und Schäfer zeigen im Ganzen ihre Rollen eher, als dass sie sich ihnen anverwandeln – und auch das ist es, was die Inszenierung zu einer der besten der Mülheimer Kinderstückeauswahl macht.
Andere Produktionen haben die Frage nach der Kindlichkeit der Darstellung weniger über die Spieler*innen als über weitere Mittel des Theaters aufgezogen. So bringt Ania Michaelis am tjg Dresden Marion Braschs Winterkind und Herr Jemineh als eine Zusammenstellung verschiedenster Theatertechniken auf die Bühne – teils mit klassischem Schauspiel, aber auch mit Puppentheater, mit Scherenschnitt und Schattenspiel. So wird insbesondere die Figur des Herrn Jemineh, eines kleinen Mannes, der in der Manteltasche der Protagonistin Winterkind lebt, multimedial erfasst. Er erscheint verlebendigt, ohne dass eine lebende Schauspieler*in ihn per Verwandlungsspiel darstellen müsste.
Mit Iona Daniels Dunkelschwarz wird diese Technik noch weitergetrieben. Keine der in Gerben Vaillants Inszenierung nur grob skizzierten Figuren – der Großteil von Daniels Text wurde gestrichen – stellt ein Kind dar. Stattdessen sprechen Choreographien, Musik, Licht sowie diverse Requisiten, mit denen die Schauspieler*innen ihr Publikum umgarnen und das in losen Assoziationen entfaltete Thema "Dunkelheit" sinnlich zu fassen suchen. Die Arbeit stellt als Objekt- und Performancetheater mit poetischen Textfragmenten die Ausnahme im Mülheimer Kinderstücke-Tableau dar – ohne klassische Geschichte oder Spannungsbogen.
Das interessanteste Angebot im Segment der Schauspielarbeit unterbreitete Frank Hörner mit seiner Inszenierung von Henner Kallmeyers Troja! Blinde Passagiere im trojanischen Pferd: Das griechische Mädchen Briseis und der trojanische Junge Spourgitis lernen sich inmitten des trojanischen Krieges kennen. Obgleich sie Kinder der verfeindeten Kriegsparteien sind, freunden sie sich in der dialogischen Begegnung langsam an.
Um diese Geschichte zu erzählen, werden Sefa Küskü und Franziska Schmitz auf der Bühne nun nicht etwa zu Kindern – der kleine Junge Spourgitis trägt wohl kaum Schnurrbart wie Küskü –, sondern sie erscheinen als geradezu alterslose Figuren, die stellenweise eher wie flirtende Erwachsene wirken als wie spielende Kinder. In der Inszenierung werden die Schauspieler*innen weder zu Kindern, noch zeigen sie das Kindsein. Stattdessen verlässt sich die Inszenierung – und das deutet sich auch schon in Kallmeyers Text an – auf die Kraft der Analogie. Darin funktioniert sie ganz wunderbar. Wir sehen abstrahierte (wiewohl nicht unsinnliche!) Figuren, in denen wir uns spiegeln können, gleich ob jung oder alt.
So zeigte sich in den stärksten Momenten der Kinderstücke-Woche hier in Mülheim, dass gerade die Abstraktion und das Brecht'sche Zeigen im Kindertheater für besonderen Glanz sorgen. Die besten Momente waren nicht die, in denen man auf der Bühne so tat, als ob man (wie) ein Kind sei, sondern in denen man die im Stück angelegte Kinderrolle aus souveränem erwachsenen Spiel heraus quasi im Kopf entstehen ließ. Das ist einfach spannender beim Zuschauen, da es auch künstlerisch komplexer ist – und obendrein weniger cringe. Denn seien wir mal ehrlich: Bunt gekleidete Erwachsene, die reden wie ein Kind – will man das wirklich noch sehen?