Interview mit Sivan Ben Yishai
Jede Nacht woanders
Sivan Ben Yishai ist schon ein Stammgast in Mülheim. Im Interview verrät die Dramatikerin, was das Schlimmste am Schreiben ist. Und was man in queeren Kontexten niemals tun sollte.
Von Svenja Plannerer
24. Mai 2024. Dieses Jahr sind Sie zum dritten Mal in Folge und insgesamt zum vierten Mal zu den Mülheimer Theatertagen eingeladen. Fühlen Sie sich manchmal vom Erfolg unter Druck gesetzt?
Künstler*innen, Aktivist*innen, Denker*innen, und Arbeiter*innen allgemein arbeiten in Systemen, die sie auf mehrere Arten unterdrücken, eine Unterdrückung, die zumindest in der Kunstwelt oft als Preis getarnt wird. Natürlich sind diese Preise nicht nur negativ. Ich bin mir aber nicht sicher, ob die Kunstwelt - von den Finanzierungssystemen, über Festivals bis hin zu uns Künstler*innen selbst - weiß, wie man ohne sie Kunst präsentieren und diskutieren könnte. Wie soll man ohne diese Preise Kunst beurteilen oder verstehen? Oder wie ohne sie Finanzierungssysteme
Den Stoff von "Nora" haben Sie gleich zweimal dicht nacheinander bearbeitet, zunächst mit "Nora. Ein Thriller" an den Münchner Kammerspielen und dann mit dem "Herrenhaus". Wie unterscheiden sich die zwei Herangehensweisen?
Ich habe in München mit meinem 18-Seiten-Prolog etwas begonnen, woran ich weiterarbeiten wollte. "Nora oder Wie man das Herrenhaus kompostiert" wurde eine Meditation über den Kanon und die Um- oder Überschreibung der Vergangenheit, über alte Strukturen und wie man neue aufbaut – oder daran scheitert, neue aufzubauen. Ich wusste, dass man sagen würde, meine "Nora" wäre eine Überschreibung, aber das ist sie eigentlich nicht. Es ist eine Reflexion über die Möglichkeiten, dem literarischen Machtsystem entgegenzutreten, das auch als Kanon bekannt ist.
Am Ende Ihres Stückes kommen die Maden und zersetzen das Herrenhaus und die politischen Systeme, die es repräsentiert. Was kann hier nun neu wachsen?
Ich habe mich entschieden, nicht über "was wäre wenn" zu schreiben. Ich versuche, weder Utopien noch Dystopien zu verfassen. Stattdessen versuche ich, dorthin zu gehen, wo die Kämpfe unserer Körper weniger klar definiert sind und das Publikum Utopie und Alptraum nicht voneinander unterscheiden kann. Manche Autor*innen widmen sich der Ermächtigung und der Zukunft. Andere dokumentieren die Vergangenheit. Und es gibt solche wie mich, die den Rissen des jetzigen Moments folgen; die versuchen herauszufinden, welche neuen Worte sie aus dem Jetzt komponieren können. Oder ich versuche herauszufinden, warum das nicht geht. Warum unsere Sprache daran scheitert, die Syntax von Veränderung in den Systemen zu verankern, in denen wir arbeiten.
Sich überholter Systeme bewusst zu werden und sie zu durchbrechen, wird gerade eine Art Trend, besonders auf Social Media. Fürchten Sie manchmal, mit den Diskursen in Ihrer "Nora" offene Türen einzurennen?
Progressives Denken ist keine einzelne Tür, die einmal geöffnet wird, sondern eine Praxis. Auf der Bühne oder in der Welt. Philosophische und politische Veränderungen finden durch Sprache und die Inklusion vieler verschiedener Formen von Sprache statt. Es gibt immer Grauzonen, in denen progressives Denken hinterfragt werden muss. Man muss immer nach den Stellen suchen, wo die Sprache uns im Stich lässt, wo eine Stimme automatisch ausgelassen und vergessen wird. Man muss sich auch daran erinnern, dass die Realität nicht so homogen ist. Neulich habe ich in einem queeren Kontext eine deutsche Person bemerkt, die einer migrantischen Person eine Predigt darüber hielt, wie respektlos es sei, dass sie kein Deutsch spricht. Ich musste dazwischengehen und fragte, ob ob sie sich der Widersprüche bewusst war, zwischen dem, was sie sagte, und dem Ort, an dem sie es sagte? Solche Dinge begegnen uns täglich, in den Institutionen, bei der Arbeit, im Machtmissbrauch am Theater, in den alten, konservativen Klischees, die wir immer noch auf der Bühne sehen. Dieser Kampf hört nie auf.
Auf Instagram schreiben Sie, Ihre “Nora” hätte quasi eine doppelte Uraufführung gehabt. Die tatsächliche Uraufführung fand am Schauspiel Hannover statt (13.01.2024), die zweite Premiere zwei Wochen später am DT in Berlin (27.01.2024). Sie schreiben auch, das könnte ein neuer Standard sein – ein Stück in zwei Inszenierungen von zwei Regisseur*innen präsentieren. Wie nehmen Sie die beiden Inszenierung jeweils wahr?
Wenn ein zeitgenössisches Stück seine Premiere hat, sehen wir seine Uraufführung immer noch als die "korrekte" Interpretation. Es war für mich erfrischend, gleichzeitig zwei sehr unterschiedliche Versionen zu haben. Die Hannoveraner Uraufführung in der Regie von Marie Bues habe ich enger begleitet. Sie nutzt den Text so, wie er ist. Der Fokus liegt sehr darauf, den Text mit seinen eigenen Mechanismen zu entfalten. Die Produktion am DT nehme ich anders wahr. Sie spielt mit dem Fokus des Textes und seinen Machtstrukturen, indem sie Ausschnitte aus Ibsens Original einbaut. Das kam meiner Meinung nach der Produktion manchmal zugute, manchmal rückte es aber auch Noras ursprünglichen Konflikt ins Zentrum und machte die Statist*innen, sowohl die fiktionalen als auch die realen, wieder gesichts- und namenlos. Ich denke, sie fühlten sich frei, das zu tun, weil sie wussten, dass zeitgleich die Uraufführung in Hannover stattfinden würde.Sie arbeiten auch mit Studierenden. Was ist Ihnen dabei wichtig?
Ich versuche, den Raum mit so wenigen Plänen wie möglich zu betreten. Ein bisschen wie beim Schreiben, man weiß nie, wo die Reise wirklich hingeht. Durch dieses "nicht wissen" versuche ich, die Spannungen zu Tage zu fördern, die zwischen Themen-Ideen-Diskursen und körperlicher Präsenz bestehen. Was passiert mit uns als Autor*innen, wenn wir keinen "Plan" oder kein "Skript" haben? Welche Nuancen tauchen auf? Ich habe herausgefunden, dass die Wahrnehmung für versteckte Machtsysteme und Spannungen im Raum wächst. Für die Belastungen, die auf, in und zwischen den anwesenden Körpern bestehen; für die Körper, die nicht im Raum sind. In diesem Prozess bin ich genauso hilflos wie die Teilnehmenden. Das nimmt jedes Mal eine andere Form an, aber es erschafft eine sehr intensive Atmosphäre. Ich würde aber nie die Texte der Teilnehmenden kritisieren oder Texte überarbeiten.
Klingt so, als bräuchte man danach erstmal Urlaub.
Ja. Andererseits können wir unseren Bedürfnissen gerecht werden. Wir wenden uns von Gedanken ab wie "Ich war heute unproduktiv" oder "Ich hätte das besser machen müssen". Wir versuchen zu verstehen, dass Schreiben überall ist und in allem steckt, das wir tun. Wenn wir das realisieren und es uns wirklich erlauben zu schreiben, wird klar, dass wir unsere Kunst nicht erzwingen können. Wir definieren einen Raum, in dem wir dieses Schreiben ausdrücken können.
Als Abschlussfrage: Welche Stücke sollten dringend überschrieben werden?
Alle meine Stücke. Jedes Stück sollte umgeschrieben werden, immer. Dass wir finale, fertige Versionen unserer Werke erstellen sollen ist eine Form von Tortur für Autor*innen. Die Erwartung, etwas fertigzustellen, ist immer auch die Aufforderung, mit unserer Praxis aufzuhören. Jedes meiner Stücke hat etwa 50 Entwürfe, die ich gespeichert habe, weil ich will, dass alte Versionen irgendwo einen Abdruck hinterlassen. Sie sind Zeugnisse dessen, was das Stück einmal werden wollte und nicht wurde; von Wegen, die sie hätten einschlagen können, die aber verlassen und vergessen wurden. Sie sind auch Zeug*innen, die sich an mich erinnern, wie ich damals war; die mich in all meinen vielzählig, imperfekten, unfertigen Formen kennen.